Träume und Literatur
Ist
es so, dass die Art der Literatur, die man am Tag am Lesen ist, die Träume
eines Menschen des Nachts beeinflussen kann?
Im
Moment lese ich die ungeheuer wichtigen Werke "Die Wand" von Marlen
Haushofer und "Im Tal des Vajont" von Mauro Corona, wo es um
archaische Überlebenssituationen geht in der Einsamkeit. Im Buch "Die
Wand" wird eine Frau auf ewig mit ihren Tieren in einem Alpental
eingeschlossen von unsichtbaren Wänden und versucht zu überleben. Im anderen Buch
"Vajont" geht es um das unglaublich mörderische Leben in einem Alpengebiet,
dem Vajont nicht weit von Venedig entfernt, um das Jahr 1900 herum.
Zudem
habe ich gestern seit langem wieder den bedeutendsten Film der Weltgeschichte, "Koyaanisquatsi" von Coppola, eingeschoben,
wo gezeigt wird, wie die natürliche Welt der Ruhe und Vergangenheit hineinraste
in eine ungeheure Beschleunigung eines modernen Stadt- und Technologielebens,
welches nur im totalen Chaos enden kann.
In
den Träumen bin ich wie alle Menschen äusserst "normal" und erlebe
Dinge wie alle anderen auch.
Obschon
ich mich in meiner Philosophie und Literatur meist mit der Gesamtsituation der
Menschenwelt auf der Reise ins Verderben im 21. Jahrhundert auf allen Gebieten
und in allen Systemen beschäftige, bin ich im Traum einfach nur ein
Aussenseiter, aber immerhin innerhalb einer Gesellschaft funktionierend.
Diese
Nacht träumte ich vorerst von einem Menschen, der versuchte beim Schwimmen im
Meer an Land zu kommen, aber immer wird er oder sie von der gleichen Welle
zurückgeworfen und wird schwächer und schwächer. Dann kam ein kleiner
Passagierdampfer und davor schwammen etwa zwanzig Personen, die zu fliehen
schienen, aber sie hatten keine Chance und wurden vom verrücktgewordenen
Gefährt ersäuft.
Wenig
später träumte ich, einige wenige Bekannte von mir würden sich treffen für ein
späteres Essen auf dem Lande. Vorerst bestaunte man eine Wohnung in einem
kahlen Gebäude, das mit mir und einem Architekten etwas zu tun haben musste -
und ich blieb beim Weggehen etwas zurück. Da befand ich mich plötzlich in einem
schlossartigen Verliess und suchte den Ausgang, bis jemand von unten rief:
"Komm endlich raus!". Als ich das Törchen fand, war da kein Knochen.
Ich suchte also das Restaurant und fand in einer Stadt viele Tische entlang der
Strasse in frühlingshaftem Licht, mit offensichtlich etwa 50 Personen meines
Treffens. Doch meine Freundin war nicht dabei, bis ich sie ziemlich weit
entfernt auf einem Barhocker an einem hohen Tisch erkannte, ganz am Rande der
Szene. Ich war noch jung und gutaussehend und sah, wie Kerle am Nebentisch
tuschelten und enttäuscht waren, weil meine Frau, auch sie auserordentlich
hübsch, Gesellschaft von einem Mann bekam. Doch sie sprach kein Wort und ich
versuchte herauszufinden, warum sie nicht bei unseren anderen Freunden sass,
doch sie schien ein Geheimnis zu wissen, sehr traurig zu sein, und mit mir
nicht mehr reden zu wollen. Ich liess im Traum meinen ganzen Charme spielen um
sie aus ihrem Zustand zu locken - und vor so viel Mühe, erwachte ich
schweissgebadet.
Hatten
diese Träume etwas mit meiner Tageslektüre zu tun?
Und
warum tue ich mir dies an, die Welt aufklären zu wollen, dass sie keine Chance
mehr haben würde, wie in meinen Lieblingsfilmen "Die Wand",
"Koyaanisquatsi" und "Dreams" von Kurosawa auch ohne jeden
Zweifel erkannt und der Meute, der Masse der Blindheit und Dummheit, zum Frass
hingeworfen?
Warum
tut dies ein Mensch, wenn er im übrigen stinknormal vor sich hinlebt im Alltag,
wie alle die Menschen, die sich um das Geld, die kleinen Terroranschläge und
ihren Hedonismus kümmern, und niemals sehen wollen, wohin die Reise geht?
Und
dann die Frage: Warum soll es Träume oder gar Literatur geben, wenn diese
niemals aufklären, niemals mehr tun als die Gefühle zu bewegen, die Dummheit
der Massen zu fördern, die Interessen der Eliten zu pflegen, die Pfaffen zu
verherrlichen und die Wahrheit über den Zustand dieser Erde vor dem totalen
Crash aller Verhältnisse zu vermeiden und eine Scheinwelt des Glanzes und des
Luxus zu beschreiben, die noch nie existiert hatte, ausser für eine ganz kleine
Minderheit, und auch diese Idioten waren verzweifelt und wussten ein Nichts und
verreckten am Schluss?
Und
wozu ist ein Leben da, wenn die Massen sich nur um ihr Wohlbefinden, um ihre
Verhältnisse mit den Mitmenschen, um ihren Erfolg, um ihre Wichtigkeiten
kümmern, wenn doch alle im Elend leben oder dahin rasen, wie so herrlich in den
erwähnten Werken ins Bewusstsein gebracht?
Es
mag lustig sein, die Wahrheit, die Fakten über den realen Zustand dieser
Weltgesellschaft zu kennen, doch mir hat es nicht viele Vorteile gebracht im
Leben, in der Literatur und in meinen Träumen.
Wenn
ich tot sein werde, wird mir "Gott", der niemals existierte, die
Sache erklären - aber auch da bin ich mir nicht so sicher....
René
Delavy - Berlin and Bournemouth
written
on November 22, 2015