John Demaster
Eine Reise durch Raum und Zeit
René Delavy
INHALT
I Aus dem kalten Norden
Erscheinung des Wesens / Erste Vision / Begegnung mit Walt Widman /
Kurzfassung seines Lebens / Wanderung und Dialog mit einem Wolf
II Sag mir, wie es wirklich ist
Zweite Vision / Hausbeschreibung / Gespräche über Systeme, Wirtschaft,
Verhältnisse in der Welt
III In der Grossstadt
Bahnhof / Clochard / Ghetto und Banküberfall / Luxusrestaurant / Im Stadion /
Dialog mit einem Hund / Schlussfolgerung
IV Auf dem Ozean
Schiffsbeschreibung / Begegnung mit Mark / Visionäre Schiffsinspektion /
Gedanken am Swimmingpool / Abschied
V Normandie
Luxushotel über dem Meer / Harry Potter / Monumentalfriedhof / Über der Klippe
VI Jahrtausendwende
Côte d'Azur / Silvester und Neujahr mit René, Rita und Leon /
Gespräch über Zeitlage per 2000 / Abschied
VII Liebe in Spanien
Schlossgut von Alonso / Das Zimmer / Nobles Abendessen / Liebe mit Marie /
Stierkampf / Verzweiflung / Alonsos Schlussfolgerungen
VIII Am Nil und in der Wüste
Liebe mit Jasmin / Im Dirnenquartier / Gedanken in der Wüste /
Reflexionen über Leben und Tod
IX Kongress und Folter in Südamerika
Im Flugzeug / Nobelpreisträger Rohr / Im Foltergefängnis / Ausbruch und Vernichtung /
Gedanken zu den Diktaturen / Enttäuschung am Sozialforum
X Ruhe im Himalajagebirge
Beschreibung Tibet / In den höchsten Höhen / Im Kloster bei Emchi /
Philosophieren über Religionen, Sein und Haben
XI Verhältnisse in China
Machtsystem / Begegnung mit Woh Teng / Denkfabrik für Atomwaffen /
Reflexionen Bevölkerungsexplosion / Folgen für die Welt
XII Bagdad
Folgen des 9/11 / Am Fluss / Krieg und Bombenregen / Ursachenforschung /
Wahnsinn in der Welt
XIII Reisen im Fernen Osten
Hongkong / Chinarestaurant / Terrasse Kolonialhotel / Schachspielerin /
Zamboanga mit Taxidriver Will / Sri Lanka mit Dave / Vision Tsunami / Bei Dave und Arzt
XIV Die tausend Tode und der Zoo
Foltershow in Singapur / Folgen von Grausamkeiten / Terrorismus und Folter /
Im Zoo / Verhältnis zu Tieren / Dialog mit einem alten Löwen
XV Studenten in Sankt Petersburg
Bau Sankt Petersburg / Jugend und Leben / Gespräch mit Studenten /
Enttäuschung über das Resultat
XVI Ist dies das Paradies?
Zürich in der Schweiz / Bankgeheimnis / Dritte Vision / Wiederbegegnung mit Walt Widman /
Austausch von Erkenntnissen / Letzter Abschied von der Menschheit
XVII In der Einsamkeit angekommen
Die Insel im Pazifik / Bilanz der Erfahrungen / Vernetztes Denken /
Folgen einer Fehlentwicklung
XVIII Raum und Zeit
Natureindrücke / Prinzip Hoffnung / Reflexionen zu Raum und Zeit /
Dialog mit Einstein / Grössen der Weltgeschichte / Resultat der Mission
XIX In welcher Welt lebt der Mensch?
Grundsätze der Machbarkeit / Verbesserung der Verhältnisse /
Maximen und Realitätsebenen
XX Alles nur noch Erinnerung
Erinnerungen an die Reise / Orkan auf dem Ozean / Werden und Vergehen
Epilog
Die Gesetze von Ewigkeit und Unendlichkeit
Kapitel IX
Es drückt John gewaltig in den Sessel. Ohrenbetäubend das Dröhnen der zwei dem Ungetüm Schub verleihenden zwei Düsen, die John von seinem Sitz aus rechts vor sich sieht. Der Boden entzieht sich ihm, die Gegenstände werden immer kleiner, sind schliesslich winzig und werden nun vollends unsichtbar. Nur noch die grossen Konturen der Landschaft dringen in sein Bewusstsein, die Flüsse, Autobahnen, Städte und später die sich immer wieder verändernde Stimmung der Meeresoberfläche und des unendlich scheinenden Himmels, der sich nach oben in der Dunkelheit des Alls verliert.
"Ich heisse Heiri Rohr", stellt sich sein Sitznachbar vor, indem er aus lauter Bescheidenheit die Hälfte seines Namens verschluckt, "bin Schweizer und besuche einen Kongress in Brasilien". John gibt seine übliche mündliche Visitenkarte ab und denkt bei sich, dass er diesen Kerl doch schon mal gesehen hat. Genau, es war beim Lesen einer Fachzeitschrift bei Walt, "Science" oder so, da war dieses Gesicht erschienen zusammen mit einer langen Abhandlung über die Verdienste dieses damals soeben neu erkorenen Nobelpreisträgers der Physik. Der Wissenschafter aus Helvetien hatte verdienstvollerweise ein Vergrösserungsgerät erfunden zum Zwecke, beinahe unsichtbare Dinge erkennen zu lassen. Dies bringe einen unvorstellbaren Schub in die Wissenschaft, alles zur Glorie eines zweckdienlichen Fortschreitens dieser Welt.
John erlaubt sich einen Jux. Er konzentriert sich für Momente auf diese Zeitschrift aus vergangenen Tagen, zaubert sie unter seinem Sitz hervor und hält sie so vor sich hin, dass "Heiri Rohr" sie einfach sehen muss. Er prangt als stolzes Konterfei vom Titelblatt, vor langer Zeit photographiert, als diese Nachricht noch als Sensation empfunden wurde. Ohne direkt hinschauen zu müssen, amüsiert sich John über das masslos verblüffte Gesicht des Genies der Physik. Wie wird er nun reagieren, wird er sich zu erkennen geben? Lange lässt die Reaktion nicht auf sich warten: "Sie sind auch an Wissenschaft interessiert? Das freut mich aber sehr. Sie sind wohl ein Kollege von mir, auch Physiker? Gehen wir etwa an denselben Kongress?" John korrigiert, dass er mehr ein Universalwesen sei, an allen Wissenschaften der Welt interessiert, überhaupt an allen Systemen, die der Mensch auf diesem Globus aus dem Hut der Wissenschaft und Forschung gezaubert hat. Sofort wird der Effekt, den das Wort "Universalwesen" beim berühmten Mann aus der Schweiz ausübt, erkennbar. Sein Interesse an John zerfällt zu einem Häufchen Elend und er gibt vor, noch einige Akten studieren zu müssen. Heiri Rohr lässt bis zur Landung nichts mehr von sich vernehmen.
Die Elfenbeintürme sind fest verschlossen und jedes geistige Universum, das in die unendliche Kleinheit der Interessen und des Geistes von Fachspezialisten stossen könnte, würde selbst mit Hilfe eines Rastertunnelmikroskops nicht ersichtlich. John stellt beim Studium von wissenschaftlichen Schriften immer wieder fest, dass die Wissenschafter eigentliche Fachidioten sind, weil jeder zwar sein eng gefasstes Gebiet total beherrscht, recht eigentlich aber ein Kaiser ohne Kleider auf allen anderen Gebieten des Wissens ist. Diese Geistesgrössen leben mit vorgefassten Meinungen, doch gegen aussen tun sie so, als würde sie das Ganze, die Geistesgebiete der anderen Wissenschafter, ebenso interessieren. Doch in Wahrheit überblickt keiner dieser "hellen Köpfe" die Gesamtheit der Tatsachen, das universelle Ineinanderspielen und die Vernetztheit sämtlicher Wissensnotwendigkeiten. Am allerwenigsten begreifen sie, welche Erleichterung es für den Planeten wäre, wenn die Menschen endlich das Ende jener Wissenschaftlichkeiten falscher Gewissheiten erkennen würden, die doch häufig nur dazu dienen, einen vorgetäuschten Fortschritt zu erzeugen, welcher aber in Wirklichkeit der Nachwelt, den eigenen Nachkommen dieser Genies, keine Chancen mehr offen lässt. Ohne Ressourcen und ohne saubere Luft und trinkbares Wasser lässt sich nicht leben, dies hätten die Motorenerfinder und Energieumwandler schon vor langer Zeit erahnen sollen. Doch Wissenschafter scheinen sich nicht um solch niedrige Nebensächlichkeiten zu kümmern, schon gar nicht die viel gerühmten Preisträger der Vernichtung, des Dynamits.
In Brasilien angekommen, mietet John einen Jeep und fährt in alle Gebiete des tropischen Landes. Hoch in den Bergen entdeckt er sehr alte Siedlungen, am Rande zum Himmel, die von einer Kultur und einer Intelligenz vor Tausenden von Jahren erzählen, von welcher wir in der heutigen Zeit Unendlichkeiten entfernt leben. Die Einsamkeit der Berge wechselt ab mit völlig überbevölkerten Städten, in welchen bitterste Armut mit grösstem Reichtum konfrontiert wird, zwei Welten, sozusagen Rücken an Rücken lebend. John wundert sich, dass diese Diskrepanz von absolutem Besitz und absoluter Existenznot bestehen kann, ohne dass die vielen Armen den Aufstand wagen. Er sieht bald, warum dies so ist. Überall zirkulieren Polizeifahrzeuge, es soll einen Geheimdienst, ja eine Geheimarmee geben, Todesschwadron genannt, die jedes Husten eines Wurms erfahren kann, sobald etwas aus der Gleichförmigkeit des täglichen Lebens herausragt. Eines Abends gerät John in einen Demonstrationszug von Studenten, Journalisten und Wissenschaftern, die gegen die Zustände im Lande protestieren. Als einige organisierte Regimegegner mit Gewehren in die Luft ballern, artet dieser Umzug in Gewalt aus. Und bevor John merkt, wie ihm geschieht, fährt ein gepanzertes Fahrzeug neben im auf, er wird mit einigen jungen Menschen in die schon voll gestopfte Karre gezwängt und ab geht’s durch die Stadt und schliesslich in den Boden unter einer Kaserne, wie er später erfahren wird. Mit Gebrüll und Knüppelhieben werden sie in Zellen getrieben, wo andere Opfer des Regimes bereits warten.
Alles ist so schnell geschehen, dass sich John erst mal sammeln muss. Wo bin ich hier? Was mach ich hier? Wann werde ich wieder hinausgelassen? Er wird bald feststellen können, dass es nur ein einziges Hinauslassen gibt: als zu Tode gefolterter Mensch. Schon bald nach der Einlieferung werden einige junge Mädchen und Burschen nach dem Zufallsprinzip herausgeprügelt und weggebracht. Von Ferne hört man fürchterliches Schreien, Stöhnen, Wimmern, Befehle, Töne des Schmerzens und Bittens um Gnade. Unendlich lange dauert das Grauen. Endlich werden die Gefolterten zurückgebracht. Die Opfer der Diktatur wimmern, sich windend vor Schmerzen, sind unfähig, ein einziges Wort zu sprechen. John setzt sich zu einem jungen Mann, der einigermassen gefasst scheint und wartet, bis dieser selbst zu sprechen beginnt: "Wahnsinn. Unvorstellbar. Elektroschocks, Aufhängen, Schlagen auf die Fusssohlen, Vergewaltigung, Ersäufen. Wollen immer wieder nur Namen, Namen und Namen. Sagen nicht warum. Einfach Namen. Sie werden mich töten, wenn ich nicht Namen nennen kann." Der Bursche schweigt, zitternd vor Angst, Kälte und Schmerz. Er wird einschlafen und mit einem riesigen Schreck erwachen. Nichts ist grauenhafter, als in einer Folterstätte erwachen zu müssen, sich der Qualen erinnernd, die jetzt auf ihn warten. John besinnt sich seiner gewaltigen Kräfte, entschliesst sich aber, jetzt noch nicht einzugreifen. Doch er merkt bald, dass dies ein Fehler sein könnte. Als einige der schon zuvor Gefolterten wieder abgeholt werden, warten die Zurückgebliebenen lange vergeblich auf deren Rückkehr. John ahnt, dass sie nie mehr zurückkehren werden, nie mehr. Er ist erschlagen, er heult auf, wie er seinerzeit nach dem Stierkampf aufheulte und beschliesst, nichts mehr dem Zufall zu überlassen, jetzt sofort einzugreifen.
Als die Häscher wieder kommen, mault er den erstbesten Schergen an und nennt ihn ein Arschloch. Sofort packt ihn der Kerl, lässt den Stock über seinen Kopf hämmern und führt ihn ab in einen grossen kahlen Raum, mit Metallgestellen und verschiedenen Geräten, einer Wanne und zwei grinsenden Typen, die sich auf das kommende Schauspiel freuen. Zuerst setzen sie ihn freundlich feixend auf einen Stuhl und befragen ihn. "Bist ein Fremder? Ein Sympathisant wohl. Freut uns, dich kennen zu lernen. Du wirst uns auch noch kennen lernen. Was machst du unter diesen Terroristen?" John sagt wahrheitsgetreu, dass er aus Zufall in diese Demonstration geraten sei und eigentlich nur als Tourist das Land besuchen möchte. Die Kerle lachen dreckig: "Genau, genau. Das sagen uns alle Ausländer. Erzähl uns was von deinen Verbindungen. Mit welchen Leuten verkehrst Du? Sag Namen, sag einfach ein paar Namen, dann lassen wir dich wieder gehen. Zwei, drei Namen genügen uns völlig", lügen sie John an. Er habe keine Kontakte hier, sagt John und will endlich wissen, was hier wirklich abläuft. Er braucht nicht lange zu warten. Die Burschen schnallen ihn auf das Metallgestell, drehen an einem Kasten und warten auf die Reaktion. John begreift blitzschnell, dass er zu agieren hat. Er kennt keinen Schmerz, er empfindet keine Pein auch bei höchsten Stromstössen, er ist ein Kobold, ein Phantom, ein Orakel, ihn kann man nicht foltern oder töten. Das kann nur er selbst besorgen. Doch er ahnt, dass er sich aufbäumen und dazu schreien muss. Die Kerle merken sofort, dass irgendetwas nicht so läuft, wie sie es gewohnt sind, aber sie sind geistig dermassen verroht, dass sie trotzdem erfreut und dreckig lachen.
Seit einiger Zeit ersinnen sie immer neue Wege der totalen Schmerzerhöhung beim Foltern, längst sind ihre anfänglichen Skrupel und eine Art von Mitfühlen verloren gegangen und einer Lust an der Machtausübung über Menschenleben gewichen, ein Sadismus ohne Grenzen bricht sich Bahn und die Schergen wissen genau, dass sie von der Regierung, vom Militär berechtigt sind zu tun, was ihnen beliebt und in den Sinn kommt: Die Opfer des Regimes werden ja ohnehin alle "zum Verschwinden gebracht", nach getaner Arbeit. Für die Knechte der feinen Herren zählen schliesslich nur der Lustgewinn und auch das gute Geld, der Sold für den von ihnen erwarteten "Erfolg", gemeint sind immer mehr erpresste Namen, die ihnen erlauben, diese Drecksterroristen gegen den Staat, diese freche Opposition zur Diktatur des Landes, durch Verhaftung und Ermordung aller Oppositionellen dem Erdboden gleichzumachen respektive vom Angesicht dieser Welt der privilegierten Reichen und Mächtigen zum Verschwinden zu bringen.
John sieht die ganze Wahrheit, wie wenn er zuvor einen detaillierten Dokumentarfilm über die Situation dieses Landes vorgespielt bekommen hätte und dadurch in die Lage versetzt worden wäre, alle Ursachen und Wirkungen des sich abspielenden Grauens in diesem Staat geistig zu erfassen. Er beschliesst, diesem ganzen Elend ein Ende zu bereiten. Er konzentriert sich, die Fesseln springen zum Entsetzen der Schergen des Regimes auf und John setzt sich auf die Kante des Metallbettes. Dann richtet er seinen Blick auf die Augen des einen grobschlächtigen Mörders und schon flammen diese auf und laufen aus ihren Höhlen. Der Gepeinigte schreit laut auf, wälzt sich am Boden. Sein Kollege ist verunsichert. Fliehen oder Angreifen? Er greift an, doch nach zwei Schritten verbrennen auch seine Augen in ihren Höhlen. Vor den Augen von John zerfliessen sie, die Kerle werden erstmals und letztmals in ihrem Leben selbst gefoltert, die Unheimlichkeiten, die sie an Hunderten von Opfern ausgelebt haben, werden jetzt an ihnen ausgeübt, sie brüllen und wälzen sich während Minuten und sind schliesslich verschwunden, vom Erdboden verschluckt. John spaziert nun durch die Eisentür, als wäre diese nicht vorhanden, geht in alle Folterräume, befreit die Gefolterten und foltert die Folterer mit dem blossen Blick, die Verliestüren öffnen sich wie von Geisterhand, die Gefolterten fallen über ihre Folterer her und zerreissen sie in Stücke. Der Alarm schallt durch die vielen Räume des Todes in dieser vom Regime und seinen Todesschwadronen hingeklotzten Folterkaserne, der Lärm durchdringt Mark und Bein, erfasst alle unterirdischen Etagen.
Zielstrebig geht John vorwärts, er weiss, was er sucht und landet in dem für die hohen Tiere bestimmten Kommandoraum. Ein General der Armee des Landes ist zu Besuch, Instruktoren des Geheimdienstes eines ausländischen Hegemonialstaates ebenso. Sie sind eben dabei, mit dem Chef der Folterstätte zu erörtern, wie die Foltermethoden verfeinert werden könnten, weil die Sache langsam gefährlich wird für die beiden Staaten, den Hegemonialstaat und die Diktatur. Das IKRK ist vorstellig geworden, NGOs erstellen bereits Karteien über Mörder und Ermordete, Journalisten aus Europa recherchieren. Somit ist die Usanz des Zu-Tode-Folterns und des "Zum-Verschwinden-Bringens" wohl keine gute Taktik und könnte politische und juristische Spätfolgen haben. Als John vor ihnen steht, begreifen sie trotz des Alarmgedröhns nicht sofort, was sich hier nun abspielen wird. Ganz im Gegensatz zu John, der den ganzen Ablauf der Gespräche wie eingespielt in seinem Hirn vorfindet und nun seinerseits ganz ruhig sagt: "Ja, Herren, ihr habt schon immer gewusst, was ihr tut. Nun ist die Zeit gekommen, dass ihr den Preis dafür bezahlt." Die noblen Herren zerfallen langsam und unter grössten Schmerzen vor Johns Augen, noch bei vollem Bewusstsein wird Knochen um Knochen aus ihrem Körper gebrochen, die Herren wollen schreien, ringen um Worte, aber die Schmerzen lassen sie nicht zu Luft kommen, sie winden sich in der Qual der Sterbens auf dem Steinboden, doch schliesslich wird ihre Pein so gross, dass sie keinen einzigen Laut mehr über ihre Lippen bringen. Sie zerfallen wie zuvor ihre Folterknechte und bringen sich selbst zum Verschwinden. Endlich sind sie aus der Welt geschafft. John geht durch mehrere Wände und gelangt so ohne Mühe auf die Strasse vor der Kaserne. Von überall her schwärmen Soldaten und Offiziere in die Richtung dieses Hauses des Grauens und wollen die Revolte eindämmen. Doch dazu kommen sie gar nicht, denn John lässt sie einfach vom Erdboden verschwinden.
Er weiss, dass er nicht mehr tun kann. Dieses Regime wird weiter morden, foltern, zum Verschwinden bringen. Seine befreiten Opfer werden zum Teil wieder gefasst und das Morden im Namen der Nationen und der Hegemonialmächte wird weitergehen, hier und in vielen Staaten dieser verdummten Welt des gegenseitigen Unterstützens in einem grenzenlosen Zynismus. Diese Ungerechtigkeit, diese Ungleichheit der Chancen, diese Hoffnungslosigkeit der Opfer der Systeme, welchen nicht einmal mit Terror zu begegnen ist, dies alles kann nicht aus der Welt geschafft werden. Nur ein Paradigmenwechsel des Denkens der Menschen in ihrer Gesamtheit könnte vielleicht eine neue Realität schaffen. Doch ein solches Gutdenken ist reine Illusion, ein Denken für unreife Frohnaturen einer fürchterlichen Banalität des Bösen. Für John ist es noch zu früh, das auszuüben, was er als Möglichkeiten in seinem Sein erahnt. Er ist sich nicht einmal im Klaren, ob er je von einer ihm gegebenen Macht des Geistes und Wirkens Gebrauch machen würde. Er könnte diese Welt vernichten, eine Kettenreaktion auslösen, welcher Art auch immer, doch er will nicht unter dem Einfluss des soeben Erfahrenen handeln. Zuerst muss er mehr erfahren, er will sie verstehen, diese Welt. Er muss wissen, was er tut, bevor er es tut.
Lange braucht John, um die grauenvollen Erfahrungen dieser Tage zu verarbeiten. Er wusste von den Diktaturen, ihren Zudienern aus reichen Ländern des Nordens und den Methoden, die diese Machtzentren anwenden. Er wusste, dass sowohl so genannt "linke" sozialistische als auch "rechte" kapitalistische Diktaturen existieren. Der Unterschied ist marginal, doch die Systeme und der Zynismus gleichen sich. Allerdings war dies bisher für John - wie für alle Menschen - reine Theorie. Zum ersten Mal hat er nun aus nächster Nähe erfahren, wie es aussieht, "das System", in der Realität, erlebt mit den Augen und den Gefühlen der Direktbetroffenen, den Opfern. Er kann einfach nicht begreifen, dass Menschen anderen Menschen diese Grauenhaftigkeiten antun können, und dies nun schon seit Jahrtausenden, sogar "Gottesvertreter" haben massenweise Menschen bei lebendigem Leibe verbrennen lassen in ihrer Unfehlbarkeit. Dass sie mit Tieren nicht korrekt verfahren wollen, war John schon lange klar. Dass in Kriegen furchtbare Verbrechen und Übergriffe geschehen, war ebenso klar und irgendwie nachvollziehbar. Doch für ihn bleibt total unverständlich, warum die Menschen nicht in Frieden mit ihren Mitmenschen leben, den Frieden nie herstellen können, weder im ganz Grossen noch im Kleinen. Diese soeben erlebte, planmässige Zu-Tode-Folterung sprengt jedes Vorstellungsvermögen. Verdient diese Menschheit noch ein Fortbestehen? Was ist los mit einer Spezies, die so handelt? John begreift, dass sich die Herrschenden ihre Vorteile, die sie vielfach auch zu Recht als Verdienste betrachten, indem sie ja Leistungen für ihr Volk erbracht haben, nicht nehmen lassen wollen. Nicht von einem gebildeten oder ungebildeten Pöbel, der eine undefinierbare Ideologie von "Gleichheit, Gerechtigkeit und Brüderlichkeit" einführen will, wobei das Wort von der geschlechtsspezifischen "Brüderlichkeit" viel über die Behandlung der weiblichen Menschen als minderwertiges Geschlecht in dieser Welt aussagt. Offenbar ist es so: Wer die Macht einmal hat, gibt sie nicht aus den Händen. Elementar die Erkenntnis, dass sogar frühere Oppositionelle die besseren Schlächter sind, wenn sie einmal selbst an die Macht gelangen. Ein "Gutmenschentum" in positivem Sinne des Wortes wird es wohl nie geben auf Gottes Erde, deshalb ist es ein Unwort, ein Schimpfwort. Doch John ist fähig, das Geschehen von allen Seiten des Geistes zu betrachten. Diese Verhaltensweisen einer Spezies sind von solcher Banalität des Bösen, von solch einer Nutz- und Bösartigkeit, dass die Erklärung höchstens noch bei der Beantwortung der Frage gesucht werden muss, wie sich alles in der Evolution der Spezies so entwickeln konnte, wie es sich in der Realität entwickelt hat. John wird es erfahren, doch dazu wird er noch einige Zeit auf diesem Planeten herumspazieren müssen, bis für ihn auch die letzten Fragen des Menschseins klarer beantwortet sein werden. Die Menschen werden wohl nie begreifen, wie sich ihr Denken im Kopf heranbildet, wie sich Gefühle, auch jene der gegenseitigen Destruktion, entwickeln. John will begreifen, bevor seine Mission hier zu Ende sein wird.
Es ist ein Glück für John, dass er einige Zeit nach der Erfahrung eines sogar von der UNO akzeptierten Staatsterrors durch die Diktaturen des Schreckens, ihre hegemoniesüchtigen Nationen und auch deren Gegner, die mit gleichen Mitteln arbeiten, jetzt wieder eine andere, erfreulichere Welt erleben darf. Er ist mit Bahnen und Pferdefuhrwerken in ein anderes Land gelangt, hat viele Leute getroffen, mit ihnen geredet, gegessen, gefeiert und gearbeitet. Er hat grosse Gutshöfe und armselige Hütten besucht, ist im Urwald auf indigene Völker gestossen, hat auch mal einige Tage bei wichtigen Leuten mit Einfluss verbracht. Überall ist er willkommen geheissen worden, ihm scheinen keine Türen verschlossen zu bleiben. Von allen hat er viel Nützliches und Interessantes erfahren über diesen Kontinent, die Vielfalt der Politik in den einzelnen Staaten, er hat die Verschiedenartigkeit der Wirtschaftsmodelle erkannt und die gute oder verwerfliche Einflussnahme der anderen Staaten auf die Systeme in diesen armen Ländern studiert. Er hat auch klare Zeichen für Veränderungen in der Umwelt bemerkt, die für die Zukunft dieser Völker nicht viel Gutes versprechen. Immer mehr wird ihm bewusst, wie sehr diese Leute in wenigen Jahren ein Wasser-, Energie- und Ressourcenproblem haben werden, in viel kürzerer Zeit, als all diese Regierungen und Wirtschaftsorganisationen annehmen. Und so ist die neue Erfahrung, dass ein Teil der Menschen am Erwachen ist, Labsal für seine verbrannte Seele, für sein Mitfühlen mit einer Kreatur, die sich offenbar nicht gegen Machtmissbrauch zu wehren weiss.
Er ist an einen See gelangt, wo viele Zelte aufgestellt sind. Massenweise zirkulieren junge Leute, tanzen des Abends, singen in der Nacht und sind verkatert am anderen Morgen. Es herrschen Aufbruchstimmung und gute Laune, eine Art irrealen Hoffens auf bessere Zeiten, eine euphorische Stimmung, die offensichtlich die Hauptsache an der Veranstaltung zu sein hat. Einige Zelte und Baracken sind grösser als die anderen und darin finden Seminare, Vorträge und allgemeines Schwatzen statt. Er ist mitten in einen Sozialgipfel geraten, wo über eine Korrektur von falschen Tendenzen in der Entwicklung der Erde diskutiert wird. Es verschlägt John schliesslich in ein besonders grosses Zirkuszelt, wo eine offenbar sehr bekannte Dame hohen Alters soeben einen Vortrag über die Schädlichkeit der Globalisierung beendet, wobei sie betont, dass Globalisierung nicht das Problem sei, sondern die Art von neoliberalem Wirtschaftsdenken, das sich anscheinend für hoch industrialisierte Länder lohne, wenn auch dort zum Schaden der Umwelt und jener Menschen, die unter die Räder dieses Grössenwahns kommen. Doch in der Dritten Welt sei dieses Modell ganz besonders wirksam beim Entstehen von Armut, Überschuldung und neuen Herrschaftsstrukturen, wo ein grosser Teil der Bevölkerung immer ärmer wird und eine kleine Schicht immer reicher. Eigentlich redet die grosse Dame einer Nichtregierungsorganisation ganz im Sinne von John. Ihm war schon längstens aufgefallen, dass die Mächtigen in einem Freudenhaus gemachter Hoffnungsphantasien leben und einfach den Idealen von Wirtschaftstheoretikern verfallen und schliesslich daran glauben wie an eine Religion. Doch bei der Diskussion nach dem Vortrag will kein Schwung aufkommen.
Da meldet sich John: "Dear Susan. Ich denke wohl, dass ihr mit vielem Recht habt, was eure antiglobale Organisation auf verdienstvolle Weise zugunsten des Planeten vertreten will. Doch Ihr Plädoyer für ein Vorgehen in ganz kleinen Schritten hat einen gewaltigen Nachteil: Ihr kommt überall zu spät mit euren hübschen kleinen Schrittchen. Der Kapitalismus, der Neoliberalismus ist von solch durchschlagender Kraft, dass nur ein ganzes Umdenken in den Massen, konzertiert in allen Staaten der Welt, etwas bringen könnte. Sonst ist Ihre Arbeit für die Katz."
Die grosse alte Dame verzieht ihr Gesicht; schon wieder so ein Dummschwätzer: "Hören Sie, ich kenne Sie nicht, doch offenbar denken Sie wie viele hier, dass man nur den Kapitalismus abschaffen muss und schon herrsche das reine Paradies. Dies ist ein böser Irrtum: Erstens ist keine Revolution von unten möglich, sie hätte fürchterliche Konsequenzen und würde die Ziele des Idealismus erst noch nicht erreichen. Zweitens hat man kein Reservesystem zur Hand, das ohne gewaltige Umwälzungen diesen Systemersatz im Gleichgewicht halten könnte. Drittens sind die Gegenkräfte, die bestehenden Machtsysteme, überall etabliert, haben das ganze Weltdenken durchtränkt, sind von allen Völkern anerkannt und können eine unbesiegbare Gegenmacht zu allen Veränderungsversuchen der NGOs oder anderer Kräfte aufbauen. Sie sind einfach zu gewaltig. Wer sich gegen die herrschende Ordnung auflehnt, in seiner Totalen, hat schon verloren. Wir sind gezwungen, Schritt um Schritt zu versuchen, die Umwelt zu schonen, die Armut zu bekämpfen, die Biodiversität aufrechtzuerhalten und müssen den Versuch wagen, das Wasser, die Ressourcen und die Energiestoffe mit der Zeit etwas gerechter unter den sieben Milliarden Menschen zu verteilen."
Triumphierend schaut sie in die Runde und erhält grossen Beifall. Die Leute kennen sie, haben ihre Bücher gelesen, ihre Texte sind wohl etwas vom Intelligentesten, das in dieser Welt vor dem Kollaps zu finden ist. John will antworten, doch er sieht sofort ein, dass er den Anhängern von Madam George auf die Nerven gehen würde, bleibt stumm und verzieht sich ans Seeufer, wo er die Vögel beobachtet, wie sie elegant die Wasseroberfläche anpeilen und dann landen. Die Enten sind am Tauchen, die Kinder am Spielen, Hunde rennen Bällen hinterher. Alles ein wunderbares Idyll, hier lässt sich gut leben, sehr weit weg von jedem Ghetto dieser Welt. John ist frustriert, er fühlt sich unverstanden und befürchtet, dass er nie Gehör finden wird. Was ihm bleibt, ist wohl nur der Weg, seine Gedanken in Büchern oder einem Computer festzuhalten und darin eine neue Philosophie des Denkens zu entwickeln, die das ganze Ausmass der bereits erreichten Vernichtung von Kapital und Lebensgrundlagen offenbart. Auch er erkennt, dass alles nur in kleinen Schritten vonstatten gehen kann, zu gewaltig ist der Irrtum über das Denken von Machbarkeit und ewigem Glück im Raubbau einer Lebensgrundlage, zu sehr sind Zukunftsillusionen im normalen Leben dieser ahnungslosen Menschheit noch verankert.
Doch die Massnahmen, die die Ökologen und Schöndenker dieser Zeit durchsetzen wollen, wirken etwa so, wie wenn man den Überlauf eines Stausees bei einem sintflutartigen Dauergewitter verhindern möchte, indem man Wasser von blosser Hand aus dem See schöpft und zusieht, wie es gleich wieder in den See zurückfliesst. John erkennt aufgrund seines Verständnisses für die Grössenordnungen von Zahlen, dass man die Relationen und die Relativitäten ganz einfach im Kopf präsent haben muss, wenn man die Weltprobleme dieser Tage auch nur annähernd richtig interpretieren will. So könnte man vielleicht Erdöl einsparen und dessen massenweise Vernichtung und Umwandlung in Giftgas beschränken, indem die Technologie im Laufe der Jahre etwas schonender wird. Aber zehn oder zwanzig Prozent bessere Ausnützung bringen rein gar nichts; sie bringen nur weitere Illusionen der Machbarkeit statt Erkenntnis über die wirklich vorhandenen Grenzen des Machbaren wie auch bezüglich der Schädlichkeit von noch mehr Wachstum zur Vermeidung von Arbeitslosigkeit, Verhinderung noch grösserer Armut infolge explodierender Defizite. Und selbst wenn diese NGOs wie durch ein Wunder und in kürzester Zeit alle Regierungen und Konzerne der Welt überzeugen könnten, mit ihren Ideen Recht zu haben, wäre der Nutzen solcher Denkmodelle gleich null. Man ersetze die Erdölindustrie durch irgendeine andere Art von Energie, egal welche auch immer, und schon stösst man sich, bei dieser Masse an Bedürfnissen rund um den Globus, sofort an den nächsten Engpässen. Nein, auf diese naive Weise wird es niemals gehen. Man sieht es beim Wasser: Anstatt schonend damit zu verfahren und weniger Menschen in die potenziellen Trockengebiete zu setzen, wird mit Hilfsgeldern immer effizienter und tiefer im Grundwasserspiegel gewühlt, mit dem üblen "Nebeneffekt", dass die nachkommenden Generationen später keine Chance mehr haben, sauberes Wasser aus der Tiefe vorzufinden.
So gehen die Menschen mit allen Dingen der Wirtschaft, Politik und Umwelt in die Irre, wenn sie an einfache Lösungen glauben und Ausgleich in kleinen Schritten suchen. John ist sich im Klaren, dass die Wucht der gegenwärtigen Entwicklung das Geschehen bald diktieren wird. Dieser rasende, immer mehr beschleunigende Expresszug - mit der gesamten Menschheit als Passagiere - wird bald einmal in eine Mauer, ein Ende der Machbarkeit, am Ende des Tales knallen. Es braucht sehr schnell eine Änderung der fundamentalen Denkprozesse in den Köpfen, nicht nur jener der Massen, sondern vor allem auch der Eliten dieser Erde. Eigentlich nervt sich John über die eigene Gedankenwelt, die ihn gegenwärtig an den Rand geistiger Umnachtung zu bringen droht, denn er sieht seine Ohnmacht übermächtig werden. Pures Wissen, Verstehen von Zahlenverhältnissen, Denken in Relevanzen und Nebensächlichkeiten, Verschieben von Problemen gigantischen Ausmasses einfach in eine andere Kategorie, dies alles nützt ihm gar nichts. Er könnte alles wissen von dieser Welt, sogar das Allwissen als solches besitzen, und es würde ihm trotzdem nichts bringen, weder Anerkennung noch Wertschätzung noch Möglichkeiten zur Verbesserung der real gegebenen Verhältnisse.
Zu weit und zu lange ist der falsche Weg gegangen worden. John wird noch erfahren, worauf dieses Denken der heute lebenden Völker zurückzuführen ist. Doch im Moment ist er sehr verunsichert und beschliesst, für eine Weile abzutauchen und anderswo ein einfaches Leben zu suchen, nur noch ganz banale Erfahrungen machen zu müssen. Nach diesen Erlebnissen braucht er ein ruhiges, ein friedliches Land, er braucht eine Bevölkerung mit stoisch religiösen Anschauungen. Er braucht alles, was dafür geeignet scheint, wieder Stille in seine verletzte Seele zu bringen.