Publiziert im Dezember des Jahres 1975 in einer Zeitung der Schweiz
Mahnmale für die moderne
Zivilisation
Wir leben in einer entscheidenden Zeitphase. Nach einem beispiellosen
Wirtschaftsboom stehen wir vor einer gänzlich veränderten Landschaft:
Inflation, Rezession und Arbeitslosigkeit heissen die wichtigsten Sorgen der
Regierungen, der Wirtschaft und des Mannes von der Strasse.
Als Reaktion auf
die Rezession treten kurzfristig wirkende Aktionen an die Stelle weitsichtiger
Planung. In geradezu fataler Weise werden Ursachen und Wirkung im Weltgeschehen
miteinander verwechselt, was zu schwerwiegenden Fehlentscheidungen führt, die
mit kaum zu korrigierender Wucht auf die Zukunft der Menschheit einwirken.
Langfristige Aufrechterhaltung
einer menschenwürdigen Lebensqualität wird kurzfristigen wirtschaftlichen
Vorteilen geopfert. Die Politiker überbieten sich im Versprechen eines baldigen
Aufschwunges der Wirtschaft, unterschlagen uns jedoch gleichzeitig die
wesentliche Wahrheit über die Ursachen unserer gegenwärtigen Situation.
Wiederwahl, Rendite und
Arbeitsplatz
Seit Jahrzehnten wurde dem Moloch "Wachstum" im Einvernehmen
der Politiker (deren höchstes Ziel die Wiederwahl ist) mit den Unternehmern
(die möglichst hohe Renditen einkassieren möchten) und der Mitwirkung der
Gewerkschaften (die nicht den Menschen, sondern die Lohnsteigerung und den
Arbeitsplatz sichern wollen) absoluter Vorrang gewährt.
Einsame Rufer in
der Wüste erwähnten allerdings den Raubbau an der Natur, Abbau von Agrarfläche,
horrende Verschwendung unwiederbringlicher Rohstoffe, Verschleuderung der
Energiewerte, Verschmutzung der lebenswichtigen Faktoren Luft und Wasser,
Überdüngung des landwirtschaftlich genutzten Bodens - kurz: alarmierende
Verminderung der Lebensqualität bei stark steigendem Bruttosozialprodukt,
zahlenmässig zunehmendem Volksvermögen und grosser Konsumfreudigkeit
Das schleichende
Gift dieser weltweiten Entwicklung scheint allmählich auf den einzelnen
Menschen einzuwirken: Als ich kürzlich eine ausländische Grossstadt besuchte,
war ich von der Apathie der dortigen Bevölkerung anfänglich überrascht. Nach
einigen Stunden bemächtigte mich jedoch selbst eine Art abstumpfender Lähmung
der geistigen Wachsamkeit. Die Abgase des Verkehrs, der mit achtspurigen
Autobahnen in die Stadt geschleust wird, beginnen ihre Wirkung zu tun. Kein
Taxifahrer, der in dieser Stadt nicht hustet oder schwer atmend keucht.
Kopfschmerzen, asthmatische Anfälle und Kreislaufstörungen sind die sichtbaren
Symptome einer den Bedürfnissen des Menschen nicht gerecht werdenden
Entwicklung. Doch wie reagieren die betroffenen Menschen auf diese sichtbaren
Zeichen? Neigen sie zu Fatalismus - oder hoffen sie auf den nächsten Boom, der
eine Verbesserung der Verhältnisse vortäuscht, in Wahrheit jedoch die
verheerende Fehlentwicklung beschleunigen wird?
Unsere Lebensgrundlagen lassen
sich nicht managen!
Nach allgemeiner Auffassung ist die Rezession primär von der Inflation
verursacht worden, weil sie an der Substanz der Unternehmung zehre und dadurch
die Investitionsfreudigkeit hemme. Zudem habe der von der OPEC ausgelöste
Ölschock weitere Rohstoffproduzenten zu Preissteigerungen ermutigt, was in der
Folge das wirtschaftliche Erzeugen von Fertigprodukten in den westlichen
Industrieländern in Frage stellt. Am Ende der Kette stehe als Konsequenz
massive Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit.
Diese Theorie lehne
ich als unzureichende Analyse der weltwirtschaftlichen Lage ab, da sie sich in
den gleichen engen Gedankenbereichen bewegt, die für die Förderung materieller
Vorteile auf Kosten der natürlichen Substanz verantwortlich sind. Es
triumphiert die Machbarkeitstheorie über die elementarste Vernunft.
Die eigentliche
Ursache für das wirtschaftliche Fiasko muss bei der Bewusstseinsbildung in
Bezug auf die voraussehbare Entwicklung der heutigen Zivilisation gesucht
werden. Der einzelne Mensch wird sich immer mehr bewusst, dass es höhere
Lebenszwecke geben kann als den Konsum aller möglichen Dinge, die zwar dem
Besitz- und dem Machtbedürfnis entgegenkommen, jedoch im Zeichen des
Massenkonsums nicht mehr das halten können, was sie versprechen: Was nützt der
Tausch einer Mietwohnung mit Aussicht auf eine unversehrte Landschaft gegen ein
Eigenheit mit Ausblick auf uniforme Eigenheime? Was nützt ein protziges,
ultraschnelles Autor, das genauso im Verkehr stecken bleibt und sich an
dieselben Geschwindigkeitsgrenzen halten muss, wie ein kleines Fahrzeug? Wie
können sich Ferien lohnen, wenn ein dicht besiedeltes Industriegebiet gegen
eine von der Ferienindustrie verschandelte Landschaft eingetauscht werden muss?
Wie können zoologische Gärten noch eine heile Tierwelt vortäuschen, wenn man
gleichzeitig darüber informiert wird, dass zahlreiche Tierarten dem Konsumwahn
einer verdorbenen Zivilisation geopfert werden?
Die "heile Welt" des Geldes
Die "heile Welt" des Geldes
Der sich aufopfernde Manager darf je länger je eher mit
Gesundheitsschäden rechnen, als dass ihm sein Einsatz durch echte Verbesserung
der Lebensqualität vergolten würde. Steigende Zahlen auf dem Bankkonto und
zunehmender Besitz von Aktien und Obligationen sind lediglich Vortäuschung
besserer persönlicher Verhältnisse.
Es mag für den
einzelnen Arbeiter von kurzfristigem Vorteil sein, wenn Arbeitsplätze in schwer
umweltbelastenden Industrien erhalten bleiben - die Gesellschaft hat jedoch die
sozialen Kosten zu tragen. Desgleichen könnte wohl die Exportquote (und damit
die Beschäftigungslage) verbessert werden, wenn der Rüstungsindustrie freie
Bahn zur unbeschränkten Entfaltung gewährt würde - es kann aber durchaus sein,
dass sich diese Exportgüter über kurz oder lang gegen die Exporteure selber
richten. Ausserdem braucht man kein Moralist zu sein, um festzustellen, dass
jede exportierte Waffe dazu bestimmt ist, Menschen zu töten - sei es, um
korrupte Machtapparate zu zementieren oder um wirtschaftliche Vorteile zu
erzwingen.
Bei erhöhten
Bedürfnissen einer explosionsartig zunehmenden Bevölkerung werden sich die
Regierungen der Entwicklungsländer darauf besinnen müssen, ihrer Bevölkerung
die Grundbedürfnisse (Nahrung, Kleidung, Wohnung) sicherzustellen, um politisch
bestehen zu können. Die enorme Sozialisierungswelle der Nachkriegszeit hat
nichts von ihrer Dynamik eingebüsst und der Zeitpunkt ist in die Nähe gerückt,
zu welchem die westliche Zivilisation ihre Einflussnahme in der Dritten Welt
zurückschrauben muss.
Neue Massstäbe
Als Folge wird sich die Frage stellen, ob hochwertige Industrieprodukte
weiterhin gegen Nahrungsmittel, Rohstoffe und Energiewerte eingetauscht werden
können. Wenn die primäre Sorge des Überlebens einer Bevölkerung die Politik zu
bestimmen beginnt, werden neue Massstäbe angesetzt werden. Wir werden uns zum
Beispiel an den Gedanken gewöhnen müssen, dass kernwaffenstarrende Grossmächte
- die sich heute schon nicht schämen, korrupte Regierungen zu unterstützen -
eines Tages auch bereit sein werden, in erpresserischer Weise die Rohstoff- und
Energieströme der Welt nach ihrem Gutdünken und nach Absprache umzuleiten. Die
nationalegoistischen Prinzipien, die seit Jahrtausenden Bestand hatten, würden
zuungunsten der übrigen Welt eingesetzt und der heute schon ungleich verteilte
Kuchen in Zukunft noch ungerechter zugeordnet.
Unter diesem Aspekt
gesehen, ist es nicht unwesentlich, festzustellen, dass in der Schweiz seit dem
Zweiten Weltkrieg bestes Agrarland im Ausmass des Kantons Thurgau verbaut
worden ist - wogegen nun (bei der letzten Missernte vor zwei Jahren) in der
Kornkammer der Welt (den USA) massgebliche Politiker und Gewerkschaftsbosse für
eine drastische Einschränkung der Getreideexporte plädierten. Die Folgen einer
auf diese Weise weitergeführte Politik sind für unser Land noch nicht
abzusehen.
Vom Aberglauben der Machbarkeit
In wahnwitziger Selbstüberschätzung ist im modernen Zeitalter ein
Mechanismus der Technologie- und Industriegläubigkeit in Bewegung gesetzt
worden. Man macht Pläne für das Wiedererstehen von tropischen Regenwäldern (die
der kurzfristigen Rohstoffsucht wegen in Wüsten der Erosion umgewandelt
werden), für das Belüften, Klären und Belebbarmachen von Flüssen, Seen und von ganzen Küstenstrichen und Meeren (Rhein, Luganersee, Ostsee, Mittelmeer); für die
Bewässerung ganzer Steppen und Wüsten und für die Steigerung des Bodenertrages
durch vermehrte Düngung.
Die bisherige
Entwicklung in diesen Bereichen straft jedoch jeden diesbezüglichen Optimismus
Lüge. Nicht der Mensch, sondern die Natur setzt die Grenzen des Machbaren. Nur
innerhalb dieser Grenzen kann sich der Mensch in einer Weise verhalten, die
seiner Art förderlich ist. Dies ist heute (noch) nicht der Fall, denn die
Prioritäten sind so elementar falsch gesetzt, dass man sich fragen darf, ob der
nun einsetzende Prozess der Bewusstseinswerdung nicht zu spät kommt. Meine
Bedenken sind umso grösser, als die Regierungen wie die Mächtigen der
Wirtschaft nach wie vor unrealistische Ziele verfolgen. Die materielle
Betrachtungsweise der westlichen Zivilisation hat ihre Wirkung getan, ist in
die Wurzeln des Denkens eingedrungen und hat dafür gesorgt, dass
zusammenhängliches, globales Denken verpönt ist.
Die wahre Lage erkennen!
Ein fundamentales Umdenken steht am Beginn des Weges zur Lösung der
skizzierten Probleme. Erst danach kann die gedankenlose Verschleuderung
unvermehrbarer oder nicht wiederherzustellender Naturgüter (Tiere, Boden,
Energie- und andere Rohstoffe) zur Herstellung selbst zerstörerischer Dinge wie
Waffen, Renommierwaren und unnütze Konsum- und Investitionsgüter eingeschränkt
werden. Die dadurch freiwerdenden Mittel und Arbeitskräfte sollten gezielt auf
der Basis einer Globalplanung zur Erhaltung und Wiedergesundung unserer Umwelt
und zur Deckung der Grundbedürfnisse der Menschheit eingesetzt werden. Zudem
sollte dem erschreckenden Gefälle zwischen Besitzende und Besitzlosen innerhalb
von Nationen und zwischen den Nationen selbst gezielt entgegengewirkt werden.
Eine Veränderung
der Lebensgewohnheiten ist mit politischen Mitteln allein kaum zu
verwirklichen. Es kommt darauf an, dass die Basis die wahre Lage erkennt,
dadurch eine grundlegende Sinneswandlung einsetzt und der Wille zur Veränderung
aufgrund wertvollerer Ideale zu einem Druck auf die politischen und
wirtschaftlichen Institutionen führt.
Die letzte Chance
Die letzte Chance
Leider ist es heute wenig sensationell, solche schwer durchschaubaren
Tatbestände dem Normalverbraucher von Massenmedien, Boulevardblättern und
anderen "heile Welt" vortäuschenden Sinnesbeeinflussern schmackhaft
zu machen. Zudem ist anzunehmen, dass die herrschenden Machtstrukturen im
Rückzugsgefecht dazu dienen werden, dem Druck der Basis möglichst perfide
entgegenzuwirken oder gar durch geschickte Vorsetzung falscher Ideale oder so
genannter Sachzwänge ihn erneut in selbst zerstörerische Kanäle zu leiten, die
den Niedergang unserer Zivilisation herbeiführen müssten.
Was Not tut, ist
eine Rückbesinnung auf die wesentlichen Werte, die dem Menschen eine
vernünftige Lebensqualität garantieren und langfristig das Überleben unserer
Art sicherstellen.
Heute haben wir,
vielleicht, noch eine echte letzte Chance, die vermeintlichen materiellen
"Vorteile" unserer kapitalistischen Lebensideale einer besseren
natürlichen Lebensqualität unterzuordnen. Morgen könnte es zu spät sein. Wir
müssen die Harmonie mit den Urgesetzen unserer Lebensplattform Erde wieder
finden, sonst geht die Spezies des Homo sapiens ihrem Untergang entgegen.
geschrieben im Oktober 1975
von René Delavy
Autor von "10 Maximen zur Weiterexistenz", "CHAOS"
und "Macht x Dummheit = Selbstzerstörung"
Dank Valentin Oehen in "Volk und Heimat" publiziert - als erster veröffentlichter Text von DELAVY