Aus dem Buch "CHAOS"
- Zahlen "lügen" immer
- Zahlen "lügen" immer
Kürzlich kontaktierte mich ein Verlag und mahnte
mich an, dass mein hier vorliegendes Buch nur eine Chance zur Verlegung und
Betreuung habe, wenn ich nicht so allgemein, so von der Kanzel herab
philosophieren würde. Viel schöner wäre es, wenn ich mit konkreten Zahlen, auch
Prozentzahlen über heute bestehende Wirtschaftsverhältnisse, arbeiten würde.
Ich hätte sicher zahlreiche Dokumentationen benützt, um meine Thesen vorbringen
zu können und diese Dokumente gelte es zu integrieren, sonst würde der
Wahrheitsgehalt meiner Ideen vom Leser angezweifelt. Zudem müsse der Bezug zum
täglichen Leben besser herausgearbeitet werden, mit Anekdoten oder mit
Erlebnissen des Tages. Und erst darauf aufbauend sei es möglich, die heutige
Leserschaft zu begeistern und meine übrigen Gedanken an den Mann und die Frau
zu bringen; die Leserschaft sozusagen bei ihren täglichen Sorgen abzuholen, wie
dies neudeutsch so schön heisst.
Recht hat er, der Verleger. Doch hat er sich
wirklich überlegt, was er da verlangt? Zum ersten finde ich Tagesbezüge und
Anekdoten auch sinnvoll und lustig, ausser es handle sich um ein Buch, das in
philosophischer Fundamentalerkenntnis die heutige Zeit als Ganzes analysiert
und nicht nur Teilbereiche des Spezialistentums pflegt, nicht nur einer Region
zudient, einer Gesellschaftsschicht, einer kurzfristigen Betrachtungsweise der
Bereiche, die nicht so ganz funktionieren, wie wir uns das wünschen könnten.
Kein Philosoph hat seine Theorien verwässert durch jene Elemente, die sie angreifen:
Den Zeitgeist, das oberflächliche Interesse seiner Leser für Tagesgeschehnisse,
das Sich-lustig-Machen über das Fragwürdige am Denken in seiner Zeit. Warum
soll mir dieser Zugang zur Literatur verwehrt bleiben? Weil die heutige Episode
zu Beginn des dritten Jahrtausends noch mehr Zeitgeist und Lifestyle-Gequatsche
verlangt als jede Zeit zuvor? Genau dies ist doch der Angriffspunkt meines
gesamten Schreibens. Und diesem Diktat des Denkens nach unten soll ich mich nun
unterwerfen im Bemühen, möglichst viele Leser anzulocken?
Und die Zahlen! Ich bin nun wirklich der grösste
Zahlenmensch aller Zeiten. Unmengen von Zahlen habe ich berufsmässig bearbeiten
müssen in den 40 Jahren meines Lebens als Buchhalter und Wirtschaftsberater.
Viele Unternehmer haben andächtig meinen Analysen über ihren Geschäftsgang
zugehört und gestaunt: Nicht in der Philosophie, sondern im Zahlenmässigen
scheinen meine Zeitgenossen in mir ein "Genie" zu erkennen - welch
ein Witz der Zeitgeschichte. Das Staunen wird einmal kein Ende nehmen. Weil ich
ein Zahlenmensch bin, bin ich nun auch befugt zu behaupten, dass Zahlen lügen
und deshalb nicht in ein philosophisches Buch gehören, einmal davon abgesehen,
dass Zahlen nie, wie Worte, zeitlos und später noch verständlich sein können,
sondern nur ganz kurzfristig zu verstehen und interpretieren sind.
Hier einige Beispiele zum Beweis, wie wir uns daran
gewöhnt haben, dass Zahlen lügen, ohne dass wir es im geringsten merken würden:
1. Das
Buch "Grenzen des Wachstums" operierte gewaltig mit Zahlen und wurde
gerade deshalb im Nachhinein verlacht. Wie hatten sich die Autoren doch
getäuscht, nicht in den Grundlagen ihrer Gedanken, sondern in der Möglichkeit,
mit allen technologischen Hilfsmitteln, auch vom Weltall aus, die letzten
Ressourcen zu entdecken und zu verbrauchen. Plötzlich war ein Rohstoff nicht
mehr innerhalb von 50 Jahren, sondern in einem Zeitraum von 200 Jahren am Ende
und damit sollte sich die Theorie der Endbarkeit, so die These, im Hirn der
Zahlengläubigen relativieren und das Ganze offenbar ein Hirngespinst für
Überängstliche sein. Doch die Tatsache,
dass die Ressourcen in nur einer Sekunde der menschlichen Zeitgeschichte
weggefegt werden, bleibt trotz zahlenmässiger Relativierungen ewig im Raum
stehen und die These wird bekräftigt und nicht widerlegt.
2. "Ein
Wachstum von 10 %", besagt dies irgend etwas? Kein Mensch kann sich
darunter etwas vorstellen. Was ist die Bezugsgrösse, also 100 %? Wie gross ist
diese bereits, zum Beispiel, wenn von der Staatsverschuldung die Rede ist? Welche
Grössen muss man beiziehen - wobei der Überblick immer komplexer wird - um
diese 100 % zu beurteilen? Das Bruttosozialprodukt, die Staatsverschuldungen
anderer Staaten, die Grösse der Schuld pro Kopf der Bevölkerung etc.? Und was
ist 10 % Zunahme? Über eine Zeitdauer von 10 Jahren erreichen Zunahmen von
jeweils 10 % pro Jahr nicht eine Verdoppelung der Ausgangszahl, sondern 260 %
der Ursprungsgrösse (z.B. Verschuldung), weil von immer höheren Zahlen zehn
Prozent dazu geschlagen werden müssen. Dies nennt man relatives Zahlendenken,
das nur Wenige beherrschen.
3. Eine
Relativgrösse, zum Beispiel, dass jeder Bürger eines Landes im seinem Leben im
Durchschnitt 2,6 Luftreisen ins Ausland unternimmt, ist eine Nichtaussage der
dümmsten Art. Sie klammert aus: dass nur wenige Menschen sehr viel fliegen,
dass viele Menschen gar nicht fliegen können, weil sie noch zu jung oder schon
zu alt sind, dass die Armen kein Geld zum Fliegen aufbringen können, dass die
Vielfliegerei ein Verbrechen an den zukünftigen Generationen ist, dass die
Umwelt in kaum vorstellbaren Grössenordnungen geschädigt wird und so weiter und
so fort. Auch hier lügen uns Zahlen etwas vor, während das Wirkliche dahinter
verschwindet.
4. Was
bedeutet es, wenn 10 % der Reichsten eines Staates zwei Drittel aller
Ertragssteuern bezahlen können? Sollen wir annehmen, dass diese Reichen
besonders grosszügig und lieb zu den Ärmeren sind, oder über den Skandal
staunen, dass ein Teil der eigenen Bevölkerung aufgrund unseres Kapitalsystems
in der Lage ist, die Ertragssteuern aufgrund ihrer ungeheuren Einkünfte
sozusagen alleine aufzubringen? Wobei zu sagen ist, dass die Kapitalgewinne
dieser Reichen noch nicht einmal besteuert werden und vielfach die
Erbschaftssteuern auch schon abgeschafft worden sind. Nun sind wir dankbar,
dass überhaupt die Staatsausgaben gedeckt werden können - die auch Zinslasten
einschliessen, die immer grösser werden und vielfach schon mehr als einen
Viertel der Gesamtausgaben erreicht haben aufgrund der Verschuldung zu Lasten
zukünftiger Armen - und denken trotz jener Zahlen, die vorliegen und die wir
nicht verstehen können, dass hier doch alles seinen besten Gang der Dinge
nehme. Die Zahlen sind an dieser Volks-Blindheit nicht schuld.
5. Deutschland
verfügt über eine Staatsschuld von 2,4 Billionen DM oder 2'400 Milliarden DM
per Ende des Jahres 2000. Die jährliche Zinslast beträgt aktuell 81 Milliarden
DM. Kann sich ein Mensch darunter etwas vorstellen? Welche Grösse soll man
beiziehen, damit der normale Bürger versteht, in welche Misere der Staat und
damit er selbst dank der Sucht, auf Kosten der späteren Generationen zu leben,
bereits geraten ist? Wie viele Überschüsse in welcher unmöglichen Höhe über
welche Zeitdauer müssten die Steuerzahler aufbringen, um die ganze Schuld zu
begleichen? Und trotzdem gehen die Defizite in Deutschland immer weiter, erst
im Jahr 2006 soll es wieder Überschüsse geben, doch wer weiss, wie die
Wirtschaftslage in jenem Jahr sein wird? Kein Mensch, kein Politiker versteht
in Wirklichkeit diese Zahlenspielereien und damit gerät alles zu einem
selbstmörderischen Spiel um Lug und Trug des Realen.
6. Ungeheuer
schlimm ist die Sache mit den USA: Dieses Land verfügt nur schon beim
Bundesstaat über ein Schuldenpotenzial von über 3,4 Billionen (trillions)
Dollar (= DM 7,5 Billionen) oder 3'400 Milliarden (billions) Dollar.
(Kurse und Umrechnungen im Spätjahr 2000). Diese Riesenschuld erhöht sich bei
Berücksichtigung aller Schulden der einzelnen US-Staaten und Gemeinden auf weit
über 10 Billionen Dollar (1 Billion = 1 Million x 1 Million, man rechne nun pro
Kopf der Bevölkerung!). Doch dies ist noch gar nichts: In der Börseneuphorie
aufgeladene Schulden von Firmen und Privatpersonen sind in obiger
Schuldenwirtschaft noch in keiner Weise enthalten. Diese würde vervielfacht,
wenn genau gerechnet würde und dabei käme heraus: Der einzelne US-Bürger ist in
einem unvorstellbaren Ausmass überschuldet. Was sagt dies aus? Lernen wir etwas
dazu, wenn wir wissen, dass die Staatsverschuldung von Belgien relativ gesehen
jene der USA bei weitem übertrifft? Wenn Belgien kollabiert, geschieht in der
Welt nicht viel. Wenn die USA in Konkurs gehen, nehmen sie die ganze Welt mit
in den Strudel des Ruins und der Selbst-Entreicherung, denn die Summe ist
dermassen hoch, dass alle Banken und alle Staaten, insbesondere auch Japan,
ihren Bankrott gleich mit anmelden müssten. Am Schluss wird niemand verstehen,
wie die Sache angefangen hat, wie sie sich entwickelte und warum sie
folgerichtig so enden musste.
Dabei ist jetzt ein Präsident Bush am Ruder - und er
ist beileibe nicht der einzige Staatschef dieser Art - der überhaupt keine
Ahnung von wirtschaftlichen Verhältnissen hat. Zu Gunsten der Reichsten will er
enorme Steuersenkungen versprechen und gleichzeitig die Sozialprogramme
aufstocken und die Staatsverschuldung reduzieren. Und diese Unlogik und
Unmöglichkeit verkündet er - im selben Rahmen wie sein leuchtendes Vorbild und
Selbstbetrüger Reagan - unter dem Riesenapplaus eines verblödeten Kongresses
mitten in einer Rezession, deren Ende und Ausmass noch nicht abzusehen ist. Wir
kennen die Geschichte von seinem Vorgänger, Ronald Reagan. Dieser Mann ist
heute noch populär, obschon unter seinem Regime die Staatsverschuldung förmlich
explodiert ist. Die Welt wird es all diesen Politikern und Selbstbetrügern
einmal danken, doch keine Hand wird sich in jener nicht zu fernen Zukunft mehr
zum Applaus rühren können.
Damit bin ich bei meinem alten Credo: Nicht der
Glaube versetzt Berge, sondern meinen Leitspruch gilt es zu beachten: "Die
Demokratie ist die Diktatur der dummen Mehrheiten". Genau so treffend
wäre, nicht nur bezüglich des Verhaltens von Bush und seinen Gläubigen, sondern
für unser aller Verhalten, die modernste aller Formeln: "Macht x Dummheit
= Selbstzerstörung". Und welches sind die Mittel dieser Zerstörung? Es
sind jene falschen Worte aus den Mündern von Grössenwahnsinnigen, die uns
intakte Verhältnisse vortäuschen, und es ist vor allem die falsche
Interpretation von falschen Zahlen! Mit Zahlen kann man alles und nichts
beweisen und schlimmstenfalls kann man mit ihnen die Tatsachen völlig auf den
Kopf stellen und dabei noch Applaus von einem Kongress und der sich selbst
betrügenden Gesamtbevölkerung einheimsen. Betrogen werden auch die nicht so
dummen Minderheiten in allen Teilen der Welt. Dies scheint der Minimalpreis zu
sein, den das demokratische Denk- und Machtsystem zu leisten hat.
Ich könnte noch seitenweise über die "Zahlenlügen" schreiben, über die Relativität all dessen schreiben, was scheinbar messbar ist,
in Tat und Wahrheit jedoch mit so vielen Vergleichsgrössen und Relativgedanken
zu konfrontieren wäre, dass am Schluss kein Mensch mehr wüsste, was der
Ausgangspunkt der Zahlengebung war. Es gibt zwar ein brennendes Beispiel, wo
Zahlen für einmal nicht lügen, und sie haben mit der oben beschriebenen Politik
zu tun. Man sagt, dass in vielen Ländern der dritten Welt eine Familie mit
einem Dollar pro Tag leben könnte. Um die Relativität von reich und arm für
einmal in Zahlen zu zeigen, nehme ich folgende Geschichte: Am Ende des
Kapitalismus werden diesmal beim Aufstand von unten nach oben keine Köpfe
rollen, sondern die Strafe wird sein: Jeder Mensch muss in seiner beliebigen
Geschwindigkeit einfach die Höhe seines Vermögens zählen und hoffentlich
während des Zählens jedes Mal daran denken, dass diese gesagte Zahl
Menschenleben hätte retten können: "Drei Milliarden
neuhundertneunundneunzig Millionen neunhundertneunundneunzig Tausend
neunhundertneunundneunzig - Vier Milliarden - Vier Milliarden und
eins.....". Man nehme im Durchschnitt fünf Sekunden pro Zahl und einen
Zähltag von acht Stunden an (5760 Zahlen pro Tag bei den gegebenen
Grössenordnungen der Zahlen - siehe oben), dann wird ein reicher Mann mit fünf
Milliarden Dollar Vermögen 2378 Jahre brauchen, um sein Vermögen zählen zu
können...Damit er in 24 Jahren mit Zählen zu Ende wäre, dürfte er deshalb in
Hundert-Dollar-Schritten zählen. Es gilt zu vermuten, dass dieser Reiche in
Anbetracht der Ungeheuerlichkeit der Strafe und des sich bildenden Bewusstseins
für Gerechtigkeit längst in die Irrenanstalt abtransportiert werden musste oder
lange vor diesem Stadium zum eigenen Schutz entschieden hat, Vermögen
freiwillig unter die Armen zu verteilen. Es gibt also noch Zahlen, die nicht
lügen können. Doch dieses Zahlenbeispiel wird von den wenigsten Menschen so
verstanden, wie ich es hier beim Schreiben gemeint habe.
Deshalb behaupte ich schlicht und einfach, dass die
wenigsten Menschen in der Lage sind, Zahlen so zu interpretieren, dass sie
einen Sinn ergeben, in philosophischer Hinsicht, also etwas Fundamentales über
den Zustand unserer Gesellschaft und die rasenden Entwicklungen der Jetztzeit
auszusagen vermögen. Wenn schon die besten Zahlenmenschen immer wieder nur die
naheliegendsten Schlussfolgerungen ziehen können, zum Beispiel, dass ein
Verkehrsunternehmen zu Lasten der ökologischen Situation der Erde unbedingt den
Umsatz verdoppeln soll, um an der Börse kotiert werden zu können, und andere
unnötige utilitaristische Zahlen-Vorstellungen der schmalen Denkkraft, dann
wäre es besser, die Menschen hätten nie so etwas wie ein Zahlensystem erfunden,
dessen Wert bedroht wird von einer falschen Anwendung dieser Wissenschaft der
Mathematik. Heute dienen sehr viele Zahlen nur noch dazu, uns das Grab des
"Fortschritts und Wachstums" noch schneller schaufeln zu lassen,
statt aufgrund eben dieser Zahlen endlich aus den Kinderschuhen zu finden,
geistig erwachsen zu werden, um dann zu erwachen und das ganze Schlamassel des
Wirklichen überblicken zu können.
Ich wiederhole: Nur die Kraft der Gedanken und das
einzige Hilfsmittel zur Übermittlung dieser Gedanken, die Sprache, das Wort,
der Sinn der Texte, sind fähig, uns noch einen Blick erhaschen zu lassen auf
das Ausmass des wirklichen Geschehens. Zahlen und Anekdoten sind in diesem
Zusammenhang das Gift der nützlichen Idioten, die nicht am Problem selbst,
sondern an der Selbstgenügsamkeit im Geiste ihrer Leser interessiert sind. Ich
muss den Mut aufbringen, selbst in unserer unphilosophischen Zeit so zu
schreiben, wie Philosophen schon immer geschrieben haben: das Fundamentale der
Zeit erfassen, ohne in die Fallen der Gegenwartsdenkerei zu geraten, wo nur die
kurzsichtige Optik des Seins gepflegt wird.
Philosophieren heisst, in einem unendlichen Zeitraum
und in geographischer Grösse der Unendlichkeit zu operieren, und aus
dieser Warte richtige Schlüsse auf das Menschsein in seiner Zeitepoche zu
ziehen. Andere Optionen als jene des heute grassierenden geistigen
Selbstbetruges wären zwar offen, doch sie taugen offenbar nicht zu tieferem
Denken über unser Dasein angesichts einer immer unkontrollierbarer werdenden
Zukunft.
René Delavy
Buch "CHAOS"
René Delavy
Buch "CHAOS"