Kapitel XXI aus Buch "Reise in die Phantastik der Vergangenheit"
Habemus Papam LEON
Die Luft wird dünner; das Licht heller. Die Zeithorizonte vermischen sich im fernen Nebel des Unerklärbaren. Von oben ein diffuser Schimmer, der in den Ohren dröhnt. Ein weitentferntes Erkennen von Wesenseinheiten, die einem Sterblichen nicht zugänglich waren. Immer weiter hinauf zum Licht der rollenden Steine, die weit unten aufschlagen. Sich selbst erkennen im Unerklärbaren der noch unerforschten Weisheiten. Weiter denken als philosophische Menschenhirne je gedacht haben; durchschauen das Wesen des Seins, fernab einer stickigen Alltagswirklichkeit, die keine Wirklichkeit mehr ist, sondern nur fortgeträumte Fiktionalität des Lebens. Die Mikroteile verschwinden im unendlichen Raum unserer Vorstellungswelt und werden als Einheit allen Wesentlichen erkannt, kurz vor dem Erlöschen des letztmöglichen Gedankens. Wir kommen der Reinheit des Wesentlichen näher und erkennen erst dadurch das Nichts, in welchem wir gefangen bleiben. Alle wussten es schon immer: Wir drehen im Kreis eines unrealen Mühens um Verstehen und Verstand. Doch je mehr die Mühen sich verbreiten, getrieben von den Gehirnen einer Massenbevölkerung, umso weniger klar ist die verbildlichte Darstellung allen Wissens.
Jetzt um den Berg, immer rund herum, ein Kegel, der sich weiter oben - in der Mitte - nach oben wieder verbreitert. Der Anstieg war möglich nur bis zu diesem Punkt, nun muss das menschliche Experiment abgebrochen werden und eine andere Gattung muss den geistigen Fortschritt schaffen. Man wünscht diesen Wesen keinen Erfolg, man ahnt die Furchtbarkeit der Wahrheit. In Anbetracht der Offenbarung erkennt man die grosse Erleichterung, wieder nach unten, zum Meer, in die Landschaft, in die Hügel fruchtbaren Bodens zu steigen, lockeren Fusses mit grosser Erwartung in die Fortsetzung des schon als bekannt Vorausgesetzten. Die Reise der Entwicklung aus einer unbegreifbaren Zeit in eine andere unbegreifbare Zeit fortführen, von Raum zu Raum, nichts mehr verstehen wollen und erst dadurch alles gewinnen. Der Verlust der Illusion in die Machbarkeit als Ausweg aus der Gefahr der Selbstvernichtung und Selbstverblödung. Hier haben wir einen Hauch einer Chance und einer Wahrheit, die endlich wieder menschengerecht sein könnte. Nur: die Lawine ist bereits im Rutschen, ein Ausweichen unmöglich, eine geistige Korrektur unerwünscht, der Untergang eine Gnade der zeitgemässen Geilheit. Wir alle wollen das Ende, wir wollen es fürchterlich, denn wir wollen nur noch das Eine: uns ein letztes Mal schrecklich amüsieren und unterhalten, ergötzen am Verschwinden der eigenen Gattung in einer sich uns verschliessenden Welt. Letzte Gnade des Nichtwissens, die Offenbarung war uns nicht bestimmt. Zeit zu danken für das Gewesene und zu hoffen auf eine letzte Erkenntnis des Wesens unseres Seins. Doch die Luft wird dünner.
LEON (1999 - heute)
Lieber LEON, wie fühlst dich so? Ich denke, du solltest zufrieden sein, habe ich doch unserem Dialog eine meiner schönsten Texte vorangestellt aus dem Buch "Linien zum Himmel ziehen". Erkennst du sie wieder, lieber LEON. Du könntest mit deiner tierischen Intuition diese Texte begreifen, doch die anderen werden sie nie begreife. Doch was soll uns dies kümmern? Du wirst es verstehen, weil dein Instinkt noch intakt ist...
Warum soll ausgerechnet ich es verstehen, der ich doch nur ein Tier bin, ein Hund? Mit mir kann man überhaupt nicht vernünftig reden. Ich bin keine Weltgrösse, ich bin kein Star, ich bin ein Nichts. Ich bin nur dein Hund.
LEON, pass auf. Wenn ich über die Menschen schreibe, selbst die besten unter ihnen, tue ich es immer mir halb zugekniffener Nase. Ihr Gestank einer eingebildeten Wichtigkeit ist dermassen riesig, dass ich immer irgendwie übertreiben oder untertreiben muss in meinen Dialogen, damit ihr überhebliches Menschsein und die eingebildete Geistigkeit nicht ins Groteske abdriften. Bei dir brauch ich mir keine Gedanken zu machen. Du bist ein Tier, und dies ist eine Qualität, die den Menschen schon lange abgeht. Sie haben vergessen, wo sie hergekommen sind, wer sie einst waren. Sie spielen Genie, Konzernchef, Halbgott oder Gott. Sie sind schon lange nicht mehr von dieser Welt, sondern abgesunken in die Abgründe des eingebildeten Scheindenkens eines gehobenen Menschseins oder dann im Gegenteil aufgestiegen - eben - in die Luft, die immer dünner wird.
Und für mich, wird da die Luft nicht auch bald dünner? John, ich denke, ich habe als Hund und Tier überhaupt keinen Einfluss auf mein Schicksal. Man macht mit dir als Tier was man will.
LEON, das stimmt wohl für die anderen Tiere, beinahe alle auf der Welt, sofern sie sich im Einflussbereich des Menschen befinden. Doch bei dir möchte ich wirklich, dass du dich frei entfalten kannst, herumrennen in Wiesen und Wäldern, schwimmen in welchem See und Bach auch immer, an Weibchen riechen, die ganze Welt auf die Art der Tiere instinktiv und intensiv erfahren. Sogar Katzen darfst du beschnuppern, wenn sie dich machen lassen und Kühe an der Schnauze lecken. Wir machen zusammen Spaziergänge in der wildesten Natur, steigen durch Schluchten und Haine empor und wälzen darfst du dich in jedem Laubhaufen. Aber du hast recht: Ohne mein Fressen, ohne den Tierarzt, ohne die Pflege und Behütung vor den rasch nahenden Autos, Lastwagen und Traktoren wärest du längst mausetot. Stimmt. Wir Menschen vergessen immer wieder deine Herkunft: Du warst vor langer Zeit ein Wolf, der für sich und seine Nachkommen selbst Sorge tragen musste in der Unermesslichkeit einer endlosen wilden Landschaft. Entweder du fandest Mittel zu überleben oder du bist eines frühen Todes gestorben. Dann kam der Mensch, übernahm das Diktat, bestimmte über alle anderen Spezies und die gesamte Natur, führte die Zähmung und Erziehung wilder Tiere ein, erfand die Massentierhaltung von so genannten Nutztieren, erdachte sich in seinem Wahn einen Zirkus für Kinder und Erwachsene, die Kinder geblieben sind und daselbst durften wilde Tiere aus Afrika ihre unnatürlichen Kunststücke nach Menschenart vorführen - und als Folge fühlte sich der Homo sapiens gegenüber allen Mitbewohnern der Erde als der natürliche Sieger, der grosse Diktator.
Lieber John, der Mensch ist nun eben das intelligenteste Wesen aller Spezies und damit Sieger. Ich, als Hund, habe da keine Probleme. Ich fühle mich einsam ohne dich und trotzdem habe ich so etwas wie eine Erinnerung an die uralten Zeiten, als wir noch ohne Menschen zu leben hatten. Es ist eigentlich eine kuriose Art, sein Leben zu fristen, so wie wir Kuscheltiere heutzutage zu leben haben, als Haustiere, die man in Amerika nur als "Petties", also übersetzt als "unbedeutende Kleinigkeiten", sieht. Eigentlich lebe ich gar nicht in mir, sondern in dir. Wir Haus- und Nutztiere fügen uns den Wünschen einer anderen höheren Spezies, antizipieren dessen Absichten und wir verhalten uns so, dass wir möglichst wenig unter den Menschen und der Natur zu leiden haben. Sollte dies alles gewesen sein, das ganze Tierleben? Und sollte es anders sein als es ist, John?
LEON, du hast keine Ahnung. Es gibt sieben Milliarden Menschen. Sie wollen alle Tiere sehen, liebkosen, foltern und fressen. Sie wollen Fleisch, Fisch, Meeresfrüchte. Dieser Wunsch und Plan endete in einem Tierholocaust. Wenn du als Hund von mir bestens gehalten bist, so ist dies die absolute Ausnahme. Tiere werden vor ihrem Tod stundenlang in Transportern gemartert, in Todesangst in Gänge getrieben, nachdem sie vom langen Stehen kaum mehr gehen können und wenn sie Glück haben, wird ihr Tod einigermassen schmerzlos sein. Du selbst darfst Fleisch fressen, das auf diese Weise ein Leben vernichtete, ohne dass auch nur ein Gedanke verloren worden wäre an diese aschgraue Wirklichkeit. Wir Menschen schlachten nicht nur uns gegenseitig ab, wegen nichts und wieder nichts, wegen Religionen, Land, Politik, Ansichten, Kraftmeierei, Marginalisierung von Minderheiten, Ausrottung von Fremdem und Unangenehmem. Nein, sogar die Tiere, die Natur, die Luft, der Boden, das Wasser, alles wird missbraucht für Gründe, die die sieben Milliarden, die sich immer noch vermehren wie die Karnickel, einfach nicht begreifen wollen. Und so zu sprechen wie ich es tue, ist dann des Teufels, weil es zu Reflexionen anregen könnte, die kein Mensch hören oder lesen will. Und nun frage ich dich, LEON, warum wohl liebe ich dich und die Tiere mehr als Menschen?
Weil du ein Idiot bist, John. Deshalb. Ein Mensch muss zu den anderen Menschen stehen, er muss sich ihnen annehmen, ihre Sorgen teilen, seine Spezies verehren. Tiere sind ja gut, aber sie allein bestimmen doch nicht die Art des Menschen, oder?
LEON, du bist der Idiot. Das einzige ursprüngliche Wesen mit noch wachen Instinkten der Realität gegenüber bist du. Die Menschen haben alle Richtlinien für Masse, Zahlengrössen, Gewichte, Verhältnismässigkeiten, Grenzen des Wachstums, des Machbaren, der Realisierbarkeiten, der Lebbarkeiten schon vor langer Zeit überschritten. Schau dir das Verhalten der Menschen den Tieren gegenüber etwas genauer an: Wir wollen mal davon absehen, dass überall in der Welt Tierfabriken bestehen mit grauenerfüllenden Verhältnissen, riesige Schlachthäuser, ein Holocaust einers Massentiersterbens von ungeahnten Ausmassen. Sehen wir hin, wenn Tiere bei lebendigen Leibe gehäutet, die Pelze einfach vom Körper über den denkenden Kopf abgezogen werden - und dann lässt man empfindsame und hoch sensible Wesen, die genetisch zu neunzig Prozent dem Menschen entsprechen, einfach ohne Pelz an Schmerzen, Kälte oder Hitze unter offenem Himmel vor den Augen Gottes verrecken. Arten, die beinahe Menschen sind, also zum Beispiel den Affen, werden die Schädeldecken aufgeklappt und dieses noch lebende Wesen muss erfahren, dass ein Chinese sein Hirn einfach mit Messer, Gabel und Löffel ganz langsam frisst. Man kennt die Marter, die Tiere an den Tieren begehen, schon bei der normalen Nahrungsbeschaffung. Doch was Menschen den Tieren antun, auch bei Tierversuchen der billigsten Art, damit die Dämchen ihre Kosmetik und die Herrchen ihre Medikamente gefahrlos kaufen können, ist vor Gott ein Verbrechen, das sich noch rächen wird, LEON. Du kannst es mir glauben. Alles was der Mensch den Tieren, dem Planeten und anderen Menschen angetan hat, wird auf ihn zurückfallen.
Ich verstehe deinen Zorn, John. Ich als Tier wusste nicht um diese Grauenhaftigkeiten. Es ist nicht die Art der Tiere, ihr eigenes Schicksal zu reflektieren, sonst hätten wir den Menschen schon lange den Krieg erklärt. Wir sind tumb und blöd, wir Tiere und lassen alles mit uns geschehen. Doch wo ist Gott, der die schlimmsten aller Verbrechen der Menschen verhüten sollte?
Vergiss Gott, mein lieber LEON, vergiss ihn ganz einfach: He couldn't care less. Zudem gibt es noch andere Missstände des Seins, die neben der Tierbehandlung ebenso folgenschwer sein werden. Alle, absolut alle Menschen machen mit bei einem sinnlosen Run auf Geld, sogar die Ärmsten tun es, diese allerdings aus purer Not, aber auch die Reichsten kriegen den Hals nie voll. Dies geschieht allerdings aus purer Dummheit und Gier. Die Menschen mit echter Empathie, Moral und Ethik kannst du mit dem Tropfenzähler zählen. Bei dir nehme ich den erstbesten aus einem Hundewurf, erziehe ihn ein Weilchen und habe den besten Freund, den sich ein Mensch je vorstellen kann. Absolut solidarisch, dich liebend, egal ob der Mensch steinhässlich und wunderschön ist. Ein Hund liebt sogar ein Schwein von Mensch, der ihn täglich an einer Kette verrotten lässt. Mach dich also nicht kleiner als du bist, LEON. Ich habe den Menschen studiert und ich habe den Hund studiert, die Tiere insgesamt, und ich muss es einfach einmal herausschreien: Ich liebe die Tiere, sie sind die besseren Menschen!
Na gut, dann liebst du halt die Tiere, die Hunde und mich den LEON. Mir wird dies alles ohnehin zu viel. Auch wenn du mich gelegentlich auf dein intellektuelles Niveau hochhievst, in einem Anflug von Wahn, ist so viel Erkenntnis in wenigen Minuten meines Lebens einfach zu viel. Ich will jetzt wieder Hund sein, der ewige Wolf im Schafspelz, den die Menschen aus mir gemacht haben, dann will ich fressen, dann schlafen und dann träumen. Das ist schon alles.
John entlässt den lieben LEON, seinen Hund, aus den Klauen seiner regen Phantasie und verwahrt ihn nur noch in seinen Erinnerungen. Man soll die Tiere ihr Leben leben lassen, trotz der Luft, die immer dünner wird, trotz der rollenden Steine, die uns bald einmal zermalmen werden und trotz der Grenzen im Dasein des Menschen. Mag er nun tun und lassen, was er will, der Mensch, die berühmteste und berüchtigtste aller Spezies, der Homo sapiens. Doch man lasse mir, dem Buchautor, die Freude an Tieren. Und ich werde mir einen Hund halten bis an mein selig Ende, ob er nun LEON heisse, oder Clochard oder Nick, meine früheren Hunde. Sie alle haben meine Liebe redlich verdient und aus meinem Leben keine Räuberhöhle gemacht, so wie die unfähigen Verleger und Rezensenten, die blind und taub geblieben sind, seit Jahren, Opfer von einseitigem Denken und beseelt von einem Grössenwahn zu wissen, was thematisch "in" sei und was nicht. Sie alle bleiben gefangen in einem Zeitgeist des Sauglattismus, kurz vor dem Krachen in eine Mauer, das Ende der Machbarkeiten, und trotzdem feiern sie die ewig gleichen Gefühligkeiten in Literatur und Philosophie ab und entscheiden so über den Massenkonsum im Markt, was als wichtig zu betrachten ist und was als geistiger Schrott. Die Menschenwelt bezahlt einen hohen Preis für die kulturelle Verblödung, denn sie kann auf diese Weise nicht "sehender" werden. Und deshalb wird die "höchste" Art der Erde immer so beschränkt bleiben in ihrem Bewusstsein wie sie schon immer war - und wie es ein Tier mit seiner tierischen Ethik und seinen wachen natürlichen Instinkten niemals, niemals, sein kann.