Tinguely et Saint Phalle


Was ist Kunst?


Auch wenn nicht viel bleiben sollte von meinem Aufenthalt in San Remo, die Frage zu Lebzeiten der Tochter an den Vater, den Kunstmaler, in einem Kunstbuch geschrieben, was denn Kunst sei, ist ein eigener Text wert:

Der Vater, statt zu antworten, nahm damals ein weisses Blatt, zerdrückte eine Kaktusfeige darauf mit einem Stein und zeigte dies seinen Kindern: "Dies nun ist Kunst. Es liegt im Auge des Betrachters - denn jeder Mensch entscheidet selbst, was Kunst ist."

Nun denn, dies kann man ja so sehen, und auch hier ist die Interpretation dieser Aussage beinahe uferlos. Doch eigentlich frage ich mich schon seit 50 Jahren, was Kunst ist, und was gute und was schlechte Kunst ist, und ob es Kunst überhaupt geben könne - ohne Tricks und Ausflüchte.

Meine vorläufige Erkenntnis: Kunst komme von Können, sagt man. Doch so einfach ist es niemals. Was ein Künstler KANN, in Sachen Malerei, Literatur, Philosophie, Skulpturen, Musikkompositionen etc. gilt als Kunst, ohne dass man die Sache näher definiert. Nur gibt es riesige Unterschiede in der "Kunst" zwischen Bach und Elton John, oder da Vinci und einem Sonntagsmaler, oder einen Shakespeare und Goethe und sagen wir einmal mir selbst. Und genau hier kommt das wahre Problem - und auch ein Trugschluss:

Für den Künstler selbst ist Kunst das Leichteste der Welt: Es ist bekannt, dass Mozart seine längsten Kompositionen in kürzester Zeit schrieb, er lernte es schon von Kind auf, ebenso wie Bach und andere "Genies". Dasselbe gilt für Shakespeare für seine Theaterstücke oder van Gogh für seine Malerei. Es stimmt, dass ein sehr aufwendiges Werk sehr viel Zeit beansprucht, dies hat aber damit zu tun, dass ein Wolkenkratzer auch mehr Bauzeit braucht als eine Holzhütte. Das Wesentliche an der Frage ist, dass es Genialität nicht gibt. Nur die Gesellschaft schafft die "Genies", für den Macher selbst ist es Routine und tägliches Schaffen - also kein Kunstmaler sondern ein Maler.

Und es stimmt auch, denn der Künstler konnte immer nur einen Millionstel der Welt-Kunst liefern, ein van Gogh nur van Gogh-Bilder malen und ein Dante nur eine Dante-Literatur dichten und ein Nietzsche nur eine Nietzsche-Philosophie schaffen - eben einen unglaublich kleinen Ausschnitt vom totalen "Können". Und so ist eben nur ein Universalgenie ein wirkliches Genie, wenn er das "Welt-Theater" lesen kann und vom Rest der Menschheit zu Lebzeiten weder verstanden noch anerkannt worden ist. Es gibt also absolute Kunst und relative Kunst, aber nur von aussen gesehen, von jenen die eben nichts selbst können.

"Malerei im Zürcher Oberland": Ein schrecklicher Gedanke. In der Villa lag ein Kunstbuch auf über Maler des Züricher Oberlandes, ein Land das ich als Verdingkind kennen lernte. Auch wenn der hier besprochene Maler aus San Remo der interessanteste des ganzen Buches ist: Es gibt offenbar Künstler zuhauf allein in der Periode ab 1950 bis 2000 in dieser Gegend. Das gleiche gilt dann wohl für das Zürcher Unterland, den Aargau, den Jura, das Ober- und Unterwallis und die gesamte Schweiz. Es muss Zehntausende geben in Italien, Spanien, Frankreich. Mit USA und China und Japan werden sie zu Millionen - und sie malen alle "Kunst". Und was ist der Unterschied zu van Gogh, da Vinci und Picasso? Das Können, wo sie doch alle einfach "können"? Ja, es liegt im Auge des Betrachters - und im einfachen Können des Menschen und in der Wahl der Massen.

Was Jean Tinguely sagte als er noch jung und wenig erfolgsreich war, trifft genau meine Meinung: "Es gibt keine Kunst. Alles ist Bluff und Schund und je mehr bezahlt wird für diesen Schund, umso weniger wert ist die Sache. Ab einer Million kannste du jedes Kunstwerk als Mist fortwerfen. Kunst gibt es nicht. Vielleicht könnte ich es Poesie nennen, was ja abgeleitet ist von "Leben". Man verkauft also sein Leben und sonst gar nichts. Ich verabscheue den oberflächlichen Kunstbetrieb der Reichen. Mit meinem Tod sollen auch meine Werke sterben. So will ich es haben."

Man weiss was passierte: Niki de Saint Phalle begründete nach dem Tod ein Tinguely-Museum und so geht es allen toten Künstlern. Wer den Wert dieser Zeilen hier nicht erkennt, erkennt auch niemals, ob es Kunst gibt oder nicht. Und tote Kunst wird nicht besser, indem man sie bewundert.


René Delavy - Berlin and Bournemouth

written on May 23, 2012  (Ausschnitt aus "San Remo - eine andere Welt")