Alex Kluge ist nicht kluge

Kritik an Alexander Kluge

Im Moment wird Alexander Kluge hoch gehandelt. Er kriegte den Büchner-Preis, publizierte ein Buch, mit mehreren hundert Seiten, die seine angelernte Klugheit voll zum Ausdruck bringen würden. Nun denn, ist diese Kluge ein Genie? Was tut er eigentlich? Ich muss sagen, dass ich einen Teil der Preisrede hörte, heute am Radio, und ziemlich beeindruckt war. Er redet auf höchstem Niveau von der Bewältigung der Vergangenheit, verknüpft Theorien und Weltansichten, kramt in seinem unermesslich scheinenden lexikalischen Wissen und breitet seine Weisheiten aus, in einer Weise, dass man absolut überzeugt sein muss, nachher viel gescheiter geworden zu sein, als man vorher war.

Doch war da nicht noch etwas? Die alte Leier. Man kramt in der Evolutionslehre, bringt etwas Sternentheorie in die Rede ein, spricht von Einflussnahmen von Atomen in die Zeitgeschichte und deren Wirkung auf die Menschheitsgeschichte. Wiederum: Der Mensch, der Mensch, der Mensch. Kein universell denkender Mensch, der wirklich ein Interesse am Schicksal der Menschheit hätte, in diesen total verwirrenden Zeiten, stellt auch Kluge nur den Menschen mit seinem Geist, seinen Gefühlen, seiner Geschichte in den Mittelpunkt allen Seins. Warum soll er nicht? Weil diese Ansicht die totale Abhängigkeit des Menschen von seinem Tun und dessen Wirkung auf die  Zukunft ausblendet, seine Art zu denken, seine Art zu handeln nicht relativiert und von der Reaktion der Wirklichkeit  (der Natur des Planeten, der Technologiewelt und ihrer Spätwirkung in der Zeit und der Irreleitung von menschlichen Psychologien) auf fehlerhaftes Handeln im Langzeitbereich ablenkt.

Wir müssen endlich begreifen: Das Handeln und Denken des Menschen wirken auf ihn zurück, ultimativ und ohne Möglichkeit auf Widerruf. Es geht nicht an, esoterische Sinne und ausserirdische Funktionen verantwortlich machen zu wollen, dass die Geschichte nicht vorhersehbar sein soll, wenn das menschliche Denken im Allgemeinen und bei Kluge im Besonderen so funktioniert, dass es nichts zu erklären braucht, keine Ursachen-Wirkungen-Ketten des Denkens aufzubauen braucht, weil eh ja die Geschichte so läuft, wie sie eben läuft und den Menschen immer wieder als Opfer des Schicksals sieht, denn als Täter am Schicksal. Diese Verniedlichung des Denkens, diese Verantwortungsabweisung auf Vorrat kotzt mich nur noch an.

Wie brauchen keine Menschen, die uns erklären wollen, dass es keine Zufälle gibt und dass der Mensch diese Zufälle schafft und dass nachher die Welt nicht mehr so ist wie zuvor. Die Eigenverantwortung der Denker und Dichter, der Politiker und der Mächtigen in dieser Welt ist gigantisch und durch nichts abzuwälzen, weder durch Belletristik, noch einer vereinfachenden Philosophie des Daseins, die immer nur einen Teil des Ganzen sehen will und den Menschen im vornherein entschuldigt für seine grauenhaften Taten, sein Fehlverhalten in einer Zeit, wo die Technik, die Wissenschaften, der Fortschritt, das Wachstum und die schiere Zahl der Spezies ein System geschaffen hat, das sich einer philosophischen Ideologie der Vergangenheit völlig entzieht und neue, chaotische Tatsachen schafft. Dies alles ahnt ein Alexander Kluge nur, er sieht die Zusammenhänge nicht.

Die belletristische Aufarbeitung von lexikalischem Wissen in einer Welt, die durch die Taten von Menschen eine Lebensgrundlage definitiv zum Scheitern verurteilt, ist ein Verbrechen am Geiste des Menschen. Die Umkehrung jeder Theorien von Empathie, von Verstand, wie eine Umkehr noch zu bewerkstelligen wäre.

Der Zufall will es, dass er gestern in einer TV-Sendung seine Weisheiten während einer Stunde in einem Dialog verbreiten durfte. Ohne Zweifel funktioniert sein Gehirn über alle Massen gut und in weiten Teilen durfte ich mit Freuden an seinen Lippen hängen. Dieser Mann ist ein Universum, er denkt in weiten Räumen, hat einen Horizont von Erfahrungen der ganz besonderen Grösse. Doch dann, plötzlich, kehrt es mir den Magen, solchen Stunk zu hören: Die Masse der Menschen suchten nur das Schöne, Erfreuliche, das Gutmenschliche, die Menschen im Zeitalter der Aufgeklärtheit wollten alle eine Hoffnung sehen und sich des Lebens erfreuen. Und darauf nehme seine Schreibe Rücksicht, er würde immer auf ein geistiges Gleichgewicht achten, indem er gesellschaftskritische Texte relativiere mit möglichen Lösungswegen der Erfreulichkeit und der allgemeinen Erbauung. Du heiliger Bimbam? Und die Wahrheit, die Realität, die Wucht des falschen Denkens auf eine chaotische Zukunft? Wie soll eine Aufklärung funktionieren, wenn sich der Literat schon dem Teufelsgeschmack der Unterhaltungsindustrie ums Verrecken anpassen will, damit die Leutchen in der Gegend sie wohl fühlen können?

Er begründet seinen Stuss sogar: Die Leute würden Texte instinktiv ablehnen, die nur mit Verstand und mit Vernunft auf ihn zukämen und sein geistiges Wohlgefühl versuchten zu verletzen. Hier dreht der liebe Kluge Ursache und Wirkung um: Statt zu denken, dass die Vorstellung einer irren Wirklichkeit nicht mit Gefühlen, nicht mit Romanen und anderem Schrott der Belletristik aufzubrechen wären und eine Lehre der reinen philosophischen Vernunft nur noch zu Resultaten führen kann, passt sich dieser "Menschenfreund" einem falsch verstandenen Anbiederung an das Sozialleben einer verlorenen Generation an und hält sich für ein schreibendes Genie, wenn er die Wahrheit, die noch nicht einmal er selbst kennt, so verfälscht, dass sie massentauglich wird. Ein jämmerliches Bild: Die Intelligenzija hat versagt, in allen Teilen der Welt, und Typen wir Kluge werden gefeiert als das Gelbe vom Ei einer intelligenten Gesellschaft, die es noch zu etwas bringen wird.

Was denn dieses "Etwas" ist was die Welt regiert und begreift, weiss offenbar kein Mensch, am wenigsten dieser Kluge, alles wird verdrängt ins Unterbewusste und der wache Geist verödet in der Zwischenzeit vollends.



Alexander Kluge mag ein guter Mensch sein, mit oder ohne Zweifel, Doch er sieht nicht, dass seine Art zu denken die Menschheit keinen Schritt der Wahrheit und der Selbstaufklärung näher bringt. Ist dies schon ein Verbrechen? Keineswegs, ich selbst bin angewiesen auf eine solch gefällige Literatur der Schöngeistigkeit. Doch wenn ich diese nicht korrigiere und einer universellen Einsicht über das Ganze führe, ist eine solche Weltanschauung wertlos, reine Selbstbefriedigung des Geistes, eine Beschwichtigung, dass eine falsche Vorstellung von Wirklichkeit noch kein Verbrechen sei. Dies ist mein Hauptvorwurf an Kluge und seinesgleichen: Sie nehmen sich zu wichtig, doch der Geist ist zu schwach, als dass wir unsere "condition humaine" neu ausrichten könnten, um das kommende Desaster noch abwenden zu können.

Nun denn, alle können und sollen nicht so argumentieren wie dieser René Delavy, doch es müsste immer erkennbar sein, ob wir einer universellen Wahrheit über die gelebte Wirklichkeit näher kommen oder uns im Gegenteil von ihr entfernen. Der Unterschied ist gigantisch und fundamental, denn sie entscheidet über die Weiterexistenz des Menschen, vielleicht sogar des Planeten Erde als Ganzes. Eine Geistesleistung, die dies erkennen mag, muss wohl wirklich mit Genie angereichert sein, und diese verschenkt die Natur, oder Gott, oder die Vorsehung, oder der Zufall, oder gar alle zusammen nur ganz, ganz selten. Und von solchen Glücksfällen kann die Menschheit nicht leben. Und so bleibe uns dieser Alexander Kluge noch ein bisschen erhalten, bis auch sein Stern erlösche am Firmament des Geistes, als kleines Licht am Himmel der Erkenntnis über alles Seiende.

Doch vielleicht habe ich die komplizierte Rede von Kluge ganz einfach nicht richtig verstanden, seine Texte falsch interpretiert, bin nicht klug genug um ihn zu verstehen. Dann muss ich mich wohl bei ihm entschuldigen. Und so entschuldige ich mich prophylaktisch bei der ganzen Intellektuellenschar höheren Denkens der zeitgenössischen Literatur zu Beginn des 21. Jahrhunderts, im Jahr des Herrn 2003, für die schlechte Deutung einer Literatur, die in diesen Tagen höchste Anerkennung findet, sofern sie jedermann versteht, sich damit einverstanden erklären kann und sich dann, aufgrund einer sich selbst befriedigenden Anerkennung, auch noch selbst applaudieren darf.




29. Oktober 2003                                                        René Delavy